Lichtlos 1 (German Edition)

werde ihn in zukünftigen Bänden zweifellos wiederholt erklären, aber nicht an dieser Stelle, auf diesem Abstecher von meiner Reiseroute. Vor Annamaria hat mich nur Stormy »komischer Kauz « genannt.
    Ich bin Grillkoch, habe aber nicht mehr in einem Lokal gearbeitet, seit ich vor achtzehn Monaten Pico Mundo verlassen habe. Ich vermisse die Bratplatte und die Fritteuse. Ein solcher Job richtet dich auf deine Mitte aus. Arbeit am Grill ist Zen.
    »Fühlst du den Sog ?« , wiederholt sie. »Wie die Anziehungskraft des Mondes, der Fluten durch das Meer zieht .«
    Raphael, der Golden Retriever, der sich auf dem Rücksitz zusammengerollt hat, knurrt, als wollte er damit Annamarias Frage beantworten. Unser anderer Hund, der weiße Schäferhund namens Boo, gibt natürlich keinen Laut von sich.
    Ich bin auf meinem Sitz zusammengesackt, mein Kopf lehnt an dem kühlen Glas der Fensterscheibe in der Beifahrertür, und ich bin mehr oder weniger hypnotisiert von den Mustern in den Sternen und fühle nichts Ungewöhnliches, bis Annamaria mir diese Frage stellt. Erst dann nehme ich unverkennbar wahr, dass etwas in der Nacht mich zu sich ruft, nicht nach Santa Barbara, sondern an einen anderen Ort.
    Ich habe einen sechsten Sinn mit etlichen Facetten, deren erste ist, dass ich die Geister der verweilenden Toten sehen kann, denen es widerstrebt, auf die andere Seite weiterzuziehen. Oft wollen sie, dass ich ihre Mörder der Gerechtigkeit zuführe oder dass ich ihnen helfe, den Mut zu finden, den Schritt von dieser Welt in die nächste zu tun. Ab und zu habe ich einen prophetischen Traum. Und seit ich nach Stormys gewaltsamem Tod Pico Mundo verlassen habe, scheine ich magnetisch von Orten angezogen zu werden, an denen es Ärger gibt, Orten, an die ich reisen soll, weil eine mir bislang unbekannte Kraft es will.
    Mein Leben hat eine geheimnisvolle Bestimmung, die ich nicht verstehe, und Tag für Tag, Konflikt für Konflikt, lerne ich, indem ich gehe, wohin ich gehen muss.
    Das Meer im Westen ist jetzt schwarz und bedrohlich, mit Ausnahme eines verzerrten Spiegelbildes des eisigen Mondes, das auf diesen Fluten zu einer langen silbernen Schliere zerläuft.
    Im Scheinwerferlicht leuchtet die durchbrochene weiße Linie auf dem Asphalt in Richtung Süden auf.
    »Fühlst du den Sog ?« , fragt sie wieder.
    Die Hügel auf der Landseite sind dunkel, aber vor uns auf der rechten Seite heißen Tümpel warmen Lichts an ein paar dicht zusammenstehenden Unternehmen, die nicht zu einer Stadt gehören, Reisende willkommen.
    »Dort « , sage ich. »Diese Lichter .«
    Während ich das sage, weiß ich, dass wir an diesem Ort den Tod vorfinden werden. Aber es gibt keine Umkehr. Ich bin in solchen Fällen zum Handeln gezwungen. Außerdem scheint diese Frau zu meiner Gewissensstütze geworden zu sein, indem sie mich behutsam daran erinnert, was das richtige Vorgehen ist, wenn ich zaudere.
    Hundert Meter hinter einem Schild, das ESSEN BENZIN UNTERKUNFT verspricht, zeichnet sich undeutlich eine Ausfahrt von der Schnellstraße ab. Annamaria biegt mit hoher Geschwindigkeit, aber selbstsicher und geschickt in die Abfahrt ein.
    Als wir das Ende der Abfahrt erreichen und an einem Stoppschild halten, sage ich: »Du fühlst es auch ?«
    »Ich besitze nicht deine Gaben, du komischer Kauz. Ich fühle solche Dinge nicht. Aber ich weiß es .«
    »Was weißt du ?«
    »Das, was ich wissen muss .«
    »Und das wäre ?«
    »Das wäre, was ist .«
    »Und was ist dieses das, was ist , das du weißt ?«
    Sie lächelt. »Ich weiß, was zählt, wie das alles abläuft und warum .«
    Ihr Lächeln weist darauf hin, dass es ihr Spaß macht, mich mit ihrer Hintergründigkeit auf die Folter zu spannen, doch sie neckt mich ohne jede Spur von Gemeinheit.
    Ich glaube auch nicht, dass sie andere täuschen will. Ich bin der Überzeugung, dass sie immer die Wahrheit sagt. Und sie drückt sich, obwohl es den Anschein haben könnte, auch nicht verschlüsselt aus. Sie sagt tiefe Wahrheiten, aber vielleicht tut sie es so, wie die Dichter sprechen: verblümt, unter Verwendung von Paradoxa, Symbolen und Metaphern.
    Ich bin ihr auf einem öffentlichen Pier in Magic Beach begegnet. Ich weiß nichts von Bedeutung über ihre Vergangenheit. Ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen; sie behauptet, sie hätte keinen. Als ich Annamaria das erste Mal gesehen habe, ahnte ich, dass sie außerordentliche Geheimnisse in sich birgt und dass sie einen Freund braucht. Sie hat meine Freundschaft angenommen und mir