Lichtlos 1 (German Edition)
federleichtes goldenes Licht über die Windschutzscheibe und über Annamarias Gesicht flattern und gewiss auch über meines, als würde auf uns ein Film projiziert, in dem unzählige geflügelte Wesen vorkommen.
»Ich habe heute Nacht fünf Menschen getötet « , rufe ich ihr ins Gedächtnis zurück.
»Wäre es besser, wenn es dir misslungen wäre, dem Bösen zu widerstehen, und wenn du niemanden getötet hättest ?«
Ich sage nichts.
Sie bleibt beharrlich. »Diese verhinderten Massenmörder … glaubst du etwa, sie hätten sich auf deine strenge Aufforderung hin friedlich ergeben ?«
»Natürlich nicht .«
»Wären sie bereit gewesen, über die Rechtschaffenheit der Verbrechen zu diskutieren, die sie begehen wollten ?«
»Den Spott kriege ich mit, aber ich sehe nicht, was daran mitfühlend sein soll .«
Sie ist erbarmungslos. »Vielleicht wären sie gewillt gewesen, mit dir in dieser Gerichtsshow im Fernsehen aufzutreten und Richterin Judy entscheiden zu lassen, ob sie die moralische Berechtigung hatten, vier Städte mit Atomwaffen anzugreifen oder nicht .«
»Nein. Sie hätten zu große Angst vor Richterin Judy. Auch ich fürchte mich vor Richterin Judy .«
»Du hast das Einzige getan, was du hättest tun können, junger Mann .«
»Okay. Von mir aus. Aber warum muss ich in ein und derselben Nacht von Magic Beach nach Harmony Corner fahren? So viele Tode. Ganz gleich, wie schlecht diese Menschen waren, ganz gleich, wie schlecht hier jemand sein könnte … ich bin doch keine Mordmaschine .«
Sie streckt mir eine Hand entgegen, und ich nehme sie. Obwohl ich nicht erklären kann, warum, hebt schon allein diese Berührung meine Stimmung.
»Vielleicht kommt es hier nicht zu Morden « , sagt sie.
»Aber alles beschleunigt sich .«
»Was beschleunigt sich ?«
»Mein Leben, diese Bedrohungen, die Verrücktheit – es bricht über mich herein wie eine Lawine .«
Die Federn weichen Lichts flattern nicht nur über ihr Gesicht, sondern auch in ihren Augen, als sie meine Hand drückt. »Was wünschst du dir am meisten, Oddie? Welche Hoffnung treibt dich an? Die Hoffnung auf etwas Ruhe, auf Freizeit und Mußestunden? Die Hoffnung auf ein ereignisloses, ruhiges Leben als Grillkoch, als Schuhverkäufer ?«
»Du weißt, dass es nichts dergleichen ist .«
»Sag es mir. Ich möchte dich es sagen hören .«
Ich schließe die Augen und sehe in der Erinnerung die Karte, die vor sechs Jahren aus einem Wahrsageautomaten auf einem Rummelplatz kam, als ich mit Stormy an meiner Seite für einen Vierteldollar ein kostbares Versprechen gekauft hatte.
»Du weißt, was auf der Karte stand … ›Euch ist es bestimmt, für immer zusammen zu sein .‹«
»Und dann ist sie gestorben. Aber du hast die Karte behalten. Du hast weiterhin an die Wahrheit der Karte geglaubt. Glaubst du immer noch daran ?«
Ohne zu zögern erwidere ich: »Ja. Ich muss daran glauben. Das ist alles, was ich habe .«
»Nun denn, Oddie, wenn die Hoffnung, die dich antreibt, die Wahrheit dieser Karte ist, könnte dann nicht die Beschleunigung, die dich erschreckt, das sein, was du dir tatsächlich wünschst? Könntest du vielleicht der Erfüllung dieser Vorhersage entgegeneilen? Könnte es sein, dass die Lawine, die über dich hereinbricht, nichts weiter als Stormy ist ?«
Ich schlage die Augen auf und sehe ihr wieder ins Gesicht. Die flatternden Flügel, die sich auf ihrem Gesicht und in ihren Augen widerspiegeln, könnten auch das Flackern goldener Flammen sein. Ich werde daran erinnert, dass Feuer nicht nur verzehrt; es läutert auch. Und ein anderes Wort für Läuterung ist Erlösung .
Annamaria legt ihren Kopf schief und lächelt. »Sollen wir ein Schloss mit einem geeigneten Raum suchen, wo du nach Herzenslust deine Version von Hamlets berühmtestem Monolog rezitieren kannst? Oder sollen wir einfach sehen, dass wir es hinter uns bringen ?«
Mir ist das Lächeln wohl doch noch nicht ganz vergangen. »Wir sollten besser sehen, wie wir es hinter uns bringen .«
Unser einziges Gepäckstück ist ein Picknickkorb für uns und den Golden Retriever, von unserer Freundin Blossom Rosedale in Magic Beach für uns gepackt. Nachdem Raphael einen Flecken Gras gefunden hat, um draufzupinkeln, folge ich dem Hund und Annamaria zu Bungalow 6, den sie für sich gemietet hat, und lasse den Korb bei ihr.
Auf der Veranda – als ich mich abwende, nachdem ich sie abgeliefert habe – sagt sie: »Was auch immer hier passiert, vertrau auf dein Herz. Es ist so
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