Daisy Goodwin
KAPITEL 1
Der Kolibri-Mann
Newport, Rhode Island, August 1893
Die Stunde, zu der man Besuche machte,
war fast schon vorbei, und so begegnete dem
Kolibri-Mann nur hin und wieder eine Kutsche, als er seinen Wagen durch das
schmale Sträßchen zwischen den Villen von Newport und dem Atlantischen Ozean
lenkte. Die Damen von Newport hatten an diesem Nachmittag ihre Karten
abgegeben, einige, um sich auf den letzten und wichtigsten Ball der Saison
vorzubereiten, andere, damit es den Anschein hatte, als täten sie dies. Die
Betriebsamkeit, die auf der Bellevue Avenue für gewöhnlich herrschte, hatte
sich gelegt, da die Hautevolee sich in Erwartung des bevorstehenden Abends
ausruhte, und so waren nur noch die Wellen zu hören, die sich stetig unten an
den Felsen brachen. Das Licht wurde schon schwächer, aber die Hitze des Tages
lag immer noch flirrend auf den weißgekalkten Fassaden der herrschaftlichen
Häuser, die sich entlang der Klippen aufreihten wie eine Auswahl an
Hochzeitstorten, von denen jede mit ihrer Nachbarin darum buhlte, die
prächtigste zu sein. Aber der Kolibri-Mann, der einen staubigen Frack und eine
leicht ramponierte graue Melone trug, hielt nicht etwa an, um die Veranda der
Breakers zu bewundern oder die Türmchen der Beaulieus oder den Brunnen der
Rhinelanders, den man durch die Eibenhecken und vergoldeten Tore erspähen konnte. Er
folgte weiter der Straße und pfiff und schnalzte für seine Passagiere in den
schwarz verhängten Käfigen, damit sie auf ihrer letzten Reise etwas Vertrautes
hörten. Sein Ziel war das französische Château am Ende des Weges; das größte
und kunstvollste Exemplar in einer Straße der Superlative, Sans Souci, das
Sommerhaus der Familie Cash. An dem einen Turm wehte die Flagge der Union, am
anderen das Familienwappen.
Er hielt am Torhaus, und der Pförtner
wies ihm den Weg zu den Stallungen, die eine halbe Meile entfernt lagen. Als er
die andere Seite der Anlagen erreichte, leuchteten in der marmornen Dämmerung
orangefarbene Punkte auf, Diener, die im Haus und in den Gärten chinesische
Lampions in bernsteinfarbenen Schattierungen aufhängten. Als er an der Terrasse
vorbeiging, wurde er von einem niedrigstehenden Lichtstrahl der untergehenden
Sonne geblendet, der sich in den langen Fenstern des Ballsaals brach.
Im
Spiegelsaal – den Besucher, die in Versailles gewesen waren, sogar für
eindrucksvoller hielten als das Original – betrachtete Mrs. Cash, die für den
heutigen Ball achthundert Einladungen verschickt hatte, sich in ihren
unzähligen Spiegelungen. Sie wippte mit dem Fuß und wartete ungeduldig, dass
die Sonne verschwand, damit sie die ganze Wirkung ihres Kostüms betrachten
konnte. Mr. Rhinehart, dem vielleicht mehr Schweiß von der Stirn lief, als die
Hitze zu verantworten hatte, stand neben ihr.
«Ich drücke also nur dieses
Gummiventil zusammen, und es beginnt zu leuchten?»
«Ja, ganz
richtig, Mrs. Cash, Sie drücken einmal fest, und alle Lichter werden anfangen,
wahrhaft himmlisch zu funkeln. Wenn ich Sie aber daran erinnern dürfte, dass
dieser Augenblick nur von kurzer Dauer sein darf.»
«Wie lange
habe ich, Mr. Rhinehart?»
«Das ist sehr schwer zu sagen, aber
wahrscheinlich nicht mehr als fünf Minuten. Bei einer längeren Dauer kann ich
für Ihr Wohlergehen nicht garantieren.»
Aber Mrs. Cash hörte nicht zu.
Grenzen interessierten sie nicht. Die rosafarbene Abenddämmerung ging langsam
in Dunkelheit über. Es war an der Zeit. Sie griff mit der linken Hand nach dem
Gummiventil und hörte ein leises Knistern, als das Licht die einhundertzwanzig
Glühbirnen auf ihrem Kleid und die fünfzig in ihrem Diadem erhellte. Es war,
als würde sich in dem Ballsaal mit den vielen Spiegeln ein Feuerwerk ereignen.
Als sie sich langsam drehte, musste
sie an die Yachten im Hafen von Newport denken, die bei dem noch nicht lange zurückliegenden
Besuch des deutschen Kaisers alle erleuchtet gewesen waren. Von hinten sah sie
genauso herrlich aus wie von vorn; die Schleppe, die über ihre Schultern fiel,
sah aus, als wäre sie Teil des nächtlichen Himmels. Mrs. Cash strahlte
zufrieden und ließ das Ventil los. Im Saal wurde es dunkel, bis ein Diener die
Kronleuchter zum Funkeln brachte.
«Genau so hatte ich es mir erhofft.
Sie dürfen mir Ihre Rechnung zukommen lassen.»
Der Elektriker trocknete sich die
Stirn mit einem Taschentuch, das alles andere als sauber war, zuckte mit dem
Kopf, was wohl eine Verbeugung sein sollte, und wandte sich zum
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