Liebe
in seiner Seele stark war, konnte er leben und dieses Potential bewahren. Wenn jedoch für diesen Menschen Fähigkeiten und Vollkommenheit zum Selbstzweck wurden und die Selbstsucht hierbei übermäßig zunahm, wurde er getötet oder verstümmelt, wurde er schwer krank oder sein ganzes Leben wurde ruiniert. Je mehr er kreatives Schaffen und Zeugung verabsolutierte und die Kunst für ihn zum Selbstzweck wurde, umso stärker kamen in seiner Seele Eifersucht und Gefühle des Gekränktseins gegenüber nahen Verwandten auf, umso mehr wurde er von geliebten Menschen enttäuscht und im Stich gelassen. Dann gab er entweder das kreative Schaffen auf, weil er spürte, dass es ihn tötet. Oder er gab die Familie und die festen Beziehungen zu Nahestehenden auf. Oder, wenn der Prozess bereits allzu weit fortgeschritten war, änderte das Unterbewusstsein seine Geschlechtsorientierung, um sein Leben und kreatives Schaffen zu erhalten.
Dem liegt der Prozess der Geburt und Vereinigung zweier Prinzipien — Information und Energie — zugrunde. Liebe beinhaltet Energie und Information, die sich vereinigen und, indem sie ineinander übergehen, Geburt und Entwicklung hervorrufen. Der Mann verkörpert Information, Idee, Vervollkommnung, Intellekt und Fähigkeiten. Die Frau — Energie, kreatives Schaffen und Zeugung. Männliches und weibliches Prinzip existieren gleichzeitig sowohl im Mann als auch in der Frau. Wenn der Mensch als Mann geboren wird, beträgt die männliche Polarität bei ihm 53 %, die weibliche — 47 %. Bei der Frau ist es umgekehrt. Das bedeutet, dass wir auf tiefer Ebene zweigeschlechtliche Wesen — Zwitter — sind. Und nur auf äußerer Ebene zeigt sich, zum Zweck der Entwicklung, der geschlechtliche Unterschied. Theater nimmt seinen Anfang, wenn sich die Idee des Dramatikers, die zugleich feine Energie verkörpert, mit der Energie des Theaterensembles vereint, das ebenfalls bestimmte Ideen vertritt. Der Regisseur vereint, wie die Liebe, sowohl die Information als auch die Energie in sich. Je mehr Liebe in seiner Seele ist, umso größer kann das Potential sein, das zwischen den beiden Gegensätzen entsteht, und umso größer ist die wahre Kunst.
In dem Schauspieler sind innerlich immer sowohl der Dramatiker als auch der Regisseur präsent. Doch die Hauptaufgabe des Schauspielers besteht darin zu zeigen, wie Information und Energie, indem sie sich vereinen, die Liebe bilden.
Ich erinnere mich, wie ich versuchte, einem Mädchen zu helfen, das sich bemühte, in eine Schauspielschule aufgenommen zu werden. Bereits bei der ersten Prüfung fiel es durch. Dieser Misserfolg ereignete sich, bevor es das erste Mal zu mir kam.
„Also gut, stell dich jetzt vor mir auf und trage ein Gedicht vor“, bat ich es.
Das war schrecklich, schlimmer hätte ich es mir nicht vorstellen können.
„Das sind keine Gefühle, einfach nur Gedanken. Versuche, ein anderes Gedicht vorzutragen. Du kennst doch Krylows Fabel von der Sau unter der Eiche:
Von einer alten Eiche wohl beschattet, fraß sich die Sau an Eicheln übervoll und schlief dann ein, ermattet. Sie rafft sich schließlich wieder auf — und ist’s nicht toll — ihr Rüssel unterwühlt die Wurzelknochen. ,Lass ab, dem Baume schadest du’, ruft ihr vom Ast herab ein Rabe zu,,legst du die Wurzeln bloß, so kann der Baum verdorren.’
Trag es vor“, bat ich das Mädchen.
Es begann zu zitieren, wobei es ausdrucksvoll mit den Händen gestikulierte.
„Der Form nach vorzüglich“, sagte ich ihm, „doch inhaltlich leer. Deine Worte klingen holprig, ohne Aussage. Du musst begreifen: Worte sind nur eine Folge. Das Wort entsteht aus der Emotion. Wenn du ein Gedicht vorträgst, dann darfst du die Worte nicht ausdrucksvoll aussprechen, sondern musst mit den Worten emotionale Bilder modellieren. Versuche, die Fabel ohne Worte zu zitieren. Stelle dir vor, dass du das Schwein bist, dessen höchstes Glück darin besteht, die Eicheln zu fressen. Fühle, dass für dich die Eicheln eine große Freude sind. Empfinde das Gefühl der Euphorie, wenn du dich satt gefressen hast. Spüre in dir das große Verlangen, die Wurzeln der Eiche zu unterwühlen. Du hast Verlangen nach mehr, nach noch Schmackhafterem. Jedes Ereignis wird von einer Emotion bestimmt — der Gedanke ist sekundär. Versuche also, die Fabel als Zusammenwirken von Bildern vorzutragen, vergiss dabei die Worte. Worte stehen für den Schauspieler an letzter Stelle.“
Es trug die Fabel wieder und wieder vor. Es wurde
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