Liebe auf den zweiten Blick
noch einmal blickte er hinüber, und da hatte er wieder dieses seltsame Gefühl. Er schüttelte es ab, griff nach dem Gesangbuch und sang mit.
Seit der Beinahe-Katastrophe in der Kirche war Amelia in schrecklicher Stimmung. Den Tanten war das sehr bewusst, aber sie hatten keine Ahnung, was dazu geführt hatte. Rosemary sorgte für alle möglichen Leckerbissen, und Wilhemina machte sich genügend Sorgen, um gelegentlich auch mal zu lächeln. Aber das half nichts.
Amelia hatte zwei Nächte lang geweint. Sie hatte Kopfschmerzen, die nicht wieder
verschwanden und wusste, dass sie sich zusammenreißen und eine Entscheidung über ihr Doppelleben treffen musste, sonst würde sie den Verstand verlieren - und Tyler.
„Seid ihr mit der Einkaufsliste fertig?” fragte Amelia.
Wilhemina nickte, reichte ihrer Nichte die Liste und eine Hand voll Coupons. Dann
tätschelte sie ihr unbeholfen den Arm. „Und falls du etwas Besonderes siehst, das du gern hättest, kauf es ruhig. Vielleicht Schokoladeneis oder Marshmallows. Die mochtest du doch immer.”
Amelia hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Tanten Sorgen bereitete. Sie umarmte Wilhemina und küsste sie auf die welke Wange. „Oh, Tante Witty, ich liebe dich wirklich. Und es geht mir gut. Ich brauche kein Eis und keine Marshmallows, sondern nur eine
Umarmung.”
Wilhemina machte ebenfalls ein schuldbewusstes Gesicht. „Ich weiß, dass wir nicht
immer so liebevoll sind, wie du es vielleicht gern hättest, aber …”
„Ihr seid genau richtig”, unterbrach Amelia sie. „Ich will nicht, dass du oder Tante Rosie euch auch nur im Geringsten ändert, hörst du?”
Diese ungewohnte Zurschaustellung von Zuneigung war Wilhemina peinlich. „Na ja, du
musst dich mit dem Einkaufen nicht beeilen. Ich brauche die Lebensmittel erst fürs Abendessen.”
„Ja, Ma’am”, sagte Amelia. „Bis später.”
Als sie das Haus verließ, beschloss sie, nicht mehr länger zu grübeln. Was in ihrem Leben falsch war, war ganz allein ihre Schuld. Es bestand kein Anlass, deswegen andere
unglücklich zu machen.
Tyler knallte die Autotür zu, saß mit den Händen auf dem Lenkrad da und starrte auf seine Felder, ohne etwas zu sehen. Wahrscheinlich würde er eine großartige Ernte haben dieses Jahr. Alles lief bestens.
Aber es war wohl eine zu große Hoffnung, dass sein Leben genauso glatt verlaufen
würde. Er dachte in jeder wachen Minute an Amber, und nachts träumte er von ihr. Es
belastete ihn, dass sie ein Geheimnis daraus machte, wo sie wohnte. Aber er bemühte sich, ihr zu vertrauen. Sie hatte geschworen, dass es keinen anderen Mann in ihrem Leben gab.
Das musste er einfach glauben.
„Reiß dich zusammen.” Er holte die Liste mit den Lebensmitteln, die er kaufen musste, aus der Tasche und fuhr in die Stadt.
Effie Dettenberg studierte die Aufschrift der Kekspackungen. Auf der einen stand „wenig Fett”, auf der anderen „light”. Doch ihrer Meinung nach sagten diese Firmen alle nicht die Wahrheit.
„Zu meiner Zeit mussten wir uns keine Sorgen wegen Fett und Cholesterin machen.” Sie stellte beide Packungen wieder zurück. „Ich werde einfach selber backen. Dann weiß ich wenigstens, was drin ist.”
Effie war so sehr daran gewöhnt, Maurice von ihren Sorgen zu erzählen, dass sie nichts dabei fand, mit einem Regal voller Kekspackungen zu reden. Es war egal, dass die
Packungen nicht antworteten. Maurice tat das ja auch nicht.
Dann bemerkte sie eine vertraute Gestalt am Ende der Reihe. Wenn sie sich nicht sehr irrte, war das Amelia Beauchamp. Nur war sie diesmal nicht barfuß, trug kein enges rotes Kleid und ihr Haar war nicht offen.
Amelia war vollständig in ihre Einkaufsliste vertieft und bemühte sich herauszufinden, ob das ganz unten etwas war, was sie im Supermarkt kaufen sollte, oder ob Tante Rosemary sich da nur selbst an etwas hatte erinnern wollen. Da stand in vertrauter Handschrift: „Pflaume, nicht Orange.”
Amelia entschied, zur Sicherheit sowohl Pflaumen-als auch Orangensaft zu kaufen.
Jetzt trat Effie zwischen Amelia und die Saftflaschen.
„Hallo, Amelia.”
Amelia unterdrückte einen Seufzer. „Miss Effie.”
Effie kam direkt zur Sache. „Amelia, ich weiß, dass mich das nichts angeht…”
Amelia verdrehte die Augen. Was ging Effie schon etwas an?
„Aber ich könnte schwören, dass ich dich neulich in der Gasse gesehen habe. Ich fühle mich verpflichtet, dir zu sagen, dass es dort für junge Frauen nicht sicher …”
Amelia
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