Liebe auf den zweiten Blick
Wilhemina ging mit so forschem Schritt hinaus, als würde sie in den Krieg ziehen.
„Ich denke, ich werde fahren”, murmelte Rosemary, während sie eine Locke unter ihren Hut steckte. Sie ignorierte die Tatsache, dass sie schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr Auto gefahren war.
Amelia verbarg ihr Entsetzen. „Warum lässt du mich nicht lieber fahren? Wir haben es ein bisschen eilig heute.”
„Ich schätze, du hast Recht, Liebes.”
Zu Amelias Erleichterung nahm sie auf dem Rücksitz Platz.
Als sie auf dem Parkplatz ankamen, setzte gerade die Orgelmusik ein, und es klang, als wäre Effie Dettenberg großartig in Form. Effie mochte ja die Klatschbase der Stadt sein, aber sie war auch Organistin, und die alten Hymnen lagen ihr besonders.
Amelia half beiden Tanten, die Vortreppe hinaufzusteigen. Sie hatten die Tür schon fast erreicht, als Rosemary sich umdrehte und wieder hinunterstieg.
„Ich habe meine Bibel vergessen. Es dauert nur eine Minute.”
„Warte, Tante Rosie. Ich hole sie dir.” Als Amelia ihre Tante zurückhielt, stieß sie direkt gegen eine nur zu vertraute Wand aus Muskeln. Starke Hände hielten sie im Gleichgewicht.
Sie murmelte ein unverständliches Danke, während sie sich bemühte, nicht in Panik zu geraten.
Es war Tyler! Er kam in die Kirche.
Tyler lächelte, als er sah, wie die Frau rot wurde. Diese Beauchamp-Nichte war wirklich eine seltsame Lady.
„Guten Morgen, Tyler!” Rosemary griff nach seinem Arm. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich dich zuletzt gesehen habe. Wie geht es deinen Eltern in Florida? Ich denke daran, selbst dort hinzuziehen. Die Winter hier bekommen mir nicht mehr so gut wie früher.”
Amelia hörte Tylers Antwort nicht, weil sie schon mit gesenktem Kopf zum Wagen
zurücklief, um Rosemarys Bibel zu holen.
Es war ein Reflex, der Tyler dazu bewegt hatte, die Frau festzuhalten, die gegen seine Brust geprallt war, aber es war Neugier, die ihn nun dazu trieb, ihr nachzusehen.
Ein weißer Faltenrock verbarg fast ihre außerordentlich
langen Beine. Und die weite Bluse, die im Bund des Rockes steckte, kaschierte ihren üppigen Busen auch nur unvollkommen. Er fragte sich, wieso er die Beauchamp-Nichte bisher
eigentlich nie richtig zur Kenntnis genommen hatte.
Als Amelia die Treppe wieder hinaufstieg, geschah das nicht annähernd so schnell, wie sie eben hinuntergelaufen war. Das lag dran, dass Tyler Savage zwischen ihren Tanten stand und sie beobachtete, wobei ihm nichts zu entgehen schien.
„Miss Beauchamp”, sagte er höflich und lächelte, als Amelia den Kopf einzog, während sie an ihm vorbeiging. Er fragte sich, warum sie ihr Haar so streng aufsteckte. Und dann überlegte er, warum er sich damit überhaupt beschäftigte.
„Mr. Savage”, antwortete Amelia. Zu ihrem Glück hatte es Tante Witty jetzt noch eiliger, in die Kirche zu kommen, als sie selbst.
Wilhemina wollte nicht bei einem Gespräch mit dem Schürzenjäger der Stadt gesehen
werden. Immerhin musste sie an ihren Ruf denken.
Gleich darauf nahmen Amelia und ihre Tanten ihre Plätze ein, und Amelia war dankbar, dass Tyler sie nicht erkannt hatte.
Aber sie brauchte nicht lange, um zu merken, dass er immer wieder zu ihr herüberschaute.
Einmal riss er sogar die Augen weit auf, als wäre ihm etwas Schockierendes in den Sinn gekommen. Amelia schloss die Augen und betete so inbrünstig wie nie zuvor in ihrem Leben.
Als sie wieder aufblickte, wandte Tyler sich gerade ab.
„Danke”, flüsterte sie und sank auf ihren Sitz zurück, als die Gemeinde mit einem Lied fertig war.
„Das ist nett.” Rosemary tätschelte Amelias Knie.
„Was ist nett, Tante Rosie?” fragte Amelia.
„Dass du dem Herrn dankst.” Rosemarys Lächeln erlosch, als Wilhemina ihr einen Stoß in die Rippen gab.
„Autsch!” Sie sah ihre Schwester böse an.
„Pscht!” zischte Wilhemina.
Sie gehorchten.
Von dem Platz aus, auf dem Tyler saß, hatte er einen guten Blick auf die Beauchamp-Nichte, und es verwirrte ihn, dass er geradezu zwanghaft dauernd zu ihr hinübersehen musste.
Da war etwas Vertrautes …
Du lieber Himmel! Sie erinnerte ihn an Amber.
Er begann zu schwitzen, schloss die Augen und atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Die Kirche war sicher nicht der richtige Ort, um an diese Frau zu denken, jetzt war er anscheinend verrückt geworden. Wie konnte er nur glauben, dass diese altjüngferliche Nichte seiner Amber ähnelte? Die beiden Frauen hätten unterschiedlicher sein können.
Nur
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