Liebe, fertig, los!: Roman (German Edition)
zwar klein, und hier und da löste sich die rotgelbe Tapete von der Wand,
doch sie war trotzdem Georgeannes Lieblingszimmer. Sie roch angenehm nach Kuchen und Brot, Haushaltsreiniger und Spülmittel.
Das silberne Service stand schon auf dem Teewagen bereit, und sie wollte gerade nach ihrer Großmutter rufen, als sie im Salon die Stimme eines Mannes hörte. Da niemand, außer wirklich wichtiger Besuch, diesen Raum betreten durfte, schlich sich Georgeanne heimlich durch den Flur zum Vorderteil des Hauses.
»Ihre Enkelin scheint abstrakte Begriffe überhaupt nicht erfassen zu können. Sie verdreht die Wörter, oder ihr fällt einfach nicht die richtige Bezeichnung ein. Als sie zum Beispiel das Bild eines Türknaufs gezeigt bekam, nannte sie ihn ›das Ding, an dem ich drehe, um ins Haus zu kommen‹. Trotzdem konnte sie eine Rolltreppe, eine Spitzhacke und den Großteil der fünfzig Bundesstaaten exakt bestimmen«, erklärte der Mann, den Georgeanne als den Doktor mit den großen Ohren wiedererkannte, der in der Woche zuvor die blöden Tests mit ihr gemacht hatte. Sie blieb knapp vor der Tür stehen und lauschte. »Die gute Nachricht ist, dass sie bei den Textverständnisfragen eine sehr hohe Punktzahl erreicht hat«, fuhr er fort. »Das bedeutet, dass sie versteht, was sie liest.«
»Wie kann das sein?«, fragte ihre Großmutter. »Einen Türknauf benutzt sie jeden Tag, aber eine Spitzhacke hat sie meines Wissens noch nie in der Hand gehabt. Wie kann sie die Worte verdrehen und trotzdem verstehen, was sie liest?«
»Wir wissen nicht, warum manche Kinder an einer Funktionsstörung des Gehirns leiden, Mrs. Howard. Wir wissen auch nicht, was diese Behinderung verursacht. Sie ist leider unheilbar.«
Georgeanne lehnte sich an die Wand, die vom Zimmer aus nicht zu sehen war. Ihre Wangen brannten, und ihr Magen
krampfte sich zusammen. Funktionsstörung des Gehirns? Sie war nicht so blöd, dass sie nicht wusste, was das hieß. Er hielt sie für zurückgeblieben.
»Was kann ich für meine Georgie tun?«
»Vielleicht können wir mit weiteren Tests genauer bestimmen, womit sie die meisten Probleme hat. Manchen Kindern konnte mit Medikamenten geholfen werden.«
»Ich werde Georgeanne nicht auf Medikamente setzen.«
»Dann melden Sie sie in einer Benimmschule an«, riet er. »Sie ist ein hübsches kleines Mädchen und wächst bestimmt zu einer schönen jungen Frau heran. Sie wird problemlos einen Ehemann finden, der sich um sie kümmert.«
»Einen Ehemann? Meine Georgie ist erst neun, Dr. Allen.«
»Ich will nicht respektlos sein, Mrs. Howard, aber Sie sind die Großmutter des Kindes. Wie lange können Sie noch für sie sorgen? Meiner Meinung nach wird Georgeanne nie besonders helle sein.«
Georgeannes Magen krampfte sich noch heftiger zusammen, als sie durch den Flur zurückrannte und aus der Hintertür stürzte. Sie kickte wütend eine Kaffeedose von der Treppe, sodass die Wäscheklammern ihrer Großmutter quer durch den kleinen, gepflegten Garten flogen.
In der staubigen Einfahrt parkte ein El Camino, der Georgeannes Meinung nach dieselbe Farbe hatte wie Root Beer. Der Wagen stand auf vier platten Reifen und war seit dem Tod ihres Großvaters vor zwei Jahren nicht mehr gefahren worden. Ihre Großmutter fuhr einen Lincoln, weshalb Georgeanne den El Camino als ihren Privatbesitz ansah und ihn für Ausflüge an so exotische Orte wie London, Paris und Texarkana nutzte.
Aber heute hatte sie keine Lust auf eine Spritztour. Sie
saß auf dem Vinylsitz, umklammerte das kühle Lenkrad und starrte mit leerem Blick auf das Chevrolet-Emblem auf der Hupe.
Ihre Augen schwammen in Tränen. Vielleicht hatte ihre Mutter, Billy Jean, es gewusst. Vielleicht hatte sie die ganze Zeit schon gewusst, dass Georgeanne nie »besonders helle« sein würde. Vielleicht hatte sie sie auch deshalb bei ihrer Großmutter abgeladen und war nie wiedergekommen. Großmutter sagte immer, dass Billy Jean noch nicht reif für ein Kind gewesen wäre, doch Georgeanne hatte sich stets gefragt, was sie verbrochen hatte, dass ihre Mutter abgehauen war. Vielleicht wusste sie es jetzt.
Als sie mit leerem Blick in ihre Zukunft sah, schwanden ihre Kindheitsträume mit den Tränen, die über ihre heißen Wangen rollten, und ihr wurden diverse Dinge klar. Sie würde nie mehr unbekümmert in der Pause spielen oder ein Iglu bauen wie der Rest der Klasse. Ihr Traum, Krankenschwester oder Astronautin zu werden, war geplatzt, und ihre Mutter würde niemals
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