Liebe gegen jede Regel
verregneten Freitagmorgen und wir steuern auf ein schönes Wochenende zu…« Der Radiomensch kündigt die Nachrichten an, als ich mir das dunkelblaue Hemd zuknöpfe. Ich werfe einen schnellen Blick in die riesigen Spiegeltüren meines Kleiderschranks. Schwarze, enge Stoffhose, dunkles, figurbetontes Hemd. Klassisch. Elegant. Zögerlich fummle ich an einem der oberen Knöpfe des Hemds herum. Offen lassen oder schließen? Ich seufze und mache ihn sicherheitshalber zu. Mit kritischer Miene betrachte ich meine Frisur, entscheide dann aber, dass es wohl nicht besser geht, und verlasse eilig das Schlafzimmer.
Eine ernste Stimme berichtet gerade über die neusten Konflikte im Nahen Osten, als ich das Radio ausschalte. Kontrollierend lasse ich meinen Blick durch die kleine, saubere Wohnung gleiten. Alle Fenster sind geschlossen? Gut. Der Herd ist aus? Auch gut. Elektronische Geräte sind aus? Ja.
Okay. Zufrieden schnappe ich mir mein schlichtes, schwarzes Jackett und die modische Umhängetasche, die viel zu teuer gewesen ist, die ich aber trotzdem unbedingt haben musste.
Eilig schließe ich die Wohnungstür hinter mir. Mit langen Schritten haste ich die Stufen in den zweiten Stock hinunter.
Es befinden sich immer zwei Wohnungen auf einem Stockwerk. Ich bleibe vor der linken Tür stehen. Ohne lange suchen zu müssen, wähle ich einen Schlüssel an meinem Schlüsselbund aus. Ich stecke ihn ins Schloss und drücke gleichzeitig auf den Klingelknopf neben der Tür.
»Agnes!«, rufe ich, als ich den dunklen Flur betrete. Ohne auf eine Antwort zu warten, durchquere ich den schmalen Raum und klopfe hart an eine geschlossene Holztür.
»Hm…?«
Ich öffne die Tür und stecke den Kopf in das Zimmer.
»Guten Morgen, Schlafmütze«, sage ich freundlich. »Steh auf, es ist schon sieben.«
»Max?«, fragt eine dünne Stimme aus der Dunkelheit.
Ich seufze. Ja, natürlich bin ich es. Wer denn auch sonst?
Blind gehe ich zum Fenster und ziehe den Rollladen nach oben. Trübes Tageslicht fällt in den kleinen Raum. Das einzige Möbelstück, das diese Bezeichnung auch verdient hat, ist ein großes, altes Bett, dessen Gestell aus massivem Eisen ist. Es steht an einer der vier Wände, umgeben von nichts außer Büchern, die sich auf dem Parkett stapeln, zahlreichen abgebrannten und neuen Kerzen in allen Größen und einigen wild wuchernden Zimmerpflanzen. Kleidungsstücke und Kissen, liegen verstreut auf dem Boden.
»Ich muss jetzt zur Arbeit«, sage ich. »Du stehst auf und frühstückst etwas. Ja?« Ich warte auf eine Antwort. Es ist immer dieselbe. Jeden Morgen.
»Ja…« Die dünne Stimme klingt verschlafen.
Ich betrachte den mausbraunen Haarschopf, der unter der Bettdecke hervorlugt. Das schmale, blasse Gesicht ist mir zugewandt, graue, übergroße Augen blinzeln mich glasig an.
»Heute wird der Müll abgeholt«, sage ich ernst. »Denk daran, ihn runter zu bringen. Mach das am besten gleich.«
»Okay…«
Ich bin mir sicher, sie vergisst es, sobald ich die Wohnung verlassen habe. So wie sie fast alles immer sofort vergisst.
»Ich komme heute Abend nach der Arbeit wieder bei dir vorbei.« Ungeduldig werfe ich einen Blick auf meine Armbanduhr. »Okay...« Sie ist immer noch nicht richtig wach.
»Bis dann.« Ich beuge mich zu ihr runter und streichle kurz das wirre Haar.
»Bis dann, Max…«, murmelt sie leise.
Wie jeden Morgen verlasse ich die Wohnung mit einem unguten Gefühl. Würde sie ohne mein Wecken überhaupt aufwachen?
Seufzend schiebe ich die beunruhigenden Gedanken über Agnes von mir. Sie ist kein Kind mehr. Mit fünfundzwanzig sollte man im Stande sein, selbstständig zu leben. Zu überleben. Doch Agnes ist nicht normal. Sie ist verträumt. Ein Genie - aber nicht von dieser Welt.
Der Regen ist stärker geworden. Ich hole einen kleinen Schirm aus meiner Umhängetasche und spanne ihn auf. Immer darauf bedacht, nicht in eine der zahlreichen Pfützen zu treten, eile ich die lange Straße entlang. Ein Postauto rauscht vorbei und fährt holpernd über ein Schlagloch. Das darin angesammelte Wasser spritzt platschend in alle Richtungen. Ich weiche fluchend zurück, bin aber nicht schnell genug: Flecken auf meiner teuren Hose. Die Feuchtigkeit lässt mich schaudern. Ich werfe erneut einen Blick auf meine Uhr und beschleunige meine Schritte. In zwei Minuten fährt meine U-Bahn.
Gemeinsam mit anderen Pendlern stürme ich die steilen Treppen zum Schacht hinunter. Unten flimmert das grelle Licht unzähliger
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