Liebe in St. Petersburg
Tschita – zum Glück war es nachts – hoben Gregor, Tschugarin und Luschek Michejews Sarg aus dem Güterwagen und stellten ihn am Waldrand ab. Den Aufklebezettel ›Nach Wladiwostok‹ rissen sie ab. Gründliche Beamte hätten sonst auf die Idee kommen können, Michejew mit dem nächsten Zug nachzusenden.
So aber fanden am nächsten Morgen Rotarmisten den Sarg. Der tote Mann, der darin lag, hieß nach den beigefügten Papieren Lewanowski. Man begrub ihn im Boden der Taiga, und für General Michejew war es das schönste Grab. Er lag in Rußlands Erde, in Sibiriens jungfräulichem Boden, und über ihm rauschten die Bäume der Taiga und erzählten von der Ewigkeit dieses Landes.
An einem trüben Morgen – man spürte bereits das Nahen des Herbstes – erreichte der Zug endlich Wladiwostok. Die große Hafenstadt, voll mit internationalen Schiffen und Flüchtlingen aus allen Teilen Rußlands, war noch in der Hand zarentreuen Militärs, aber bereits eingekreist von der Roten Armee. Es war eine Frage von Tagen oder Wochen, bis sie erobert sein würde. Die Lebensmittel wurden knapp, der Schwarzhandel blühte. Für Plätze auf französischen oder englischen Schiffen zahlten die Flüchtenden ein Vermögen.
»Wir sind da!« sagte Gregor und umarmte Grazina. »Wir haben das Ziel erreicht!«
»Noch nicht ganz!« Tschugarin saß auf der Kante seines Sarges. »Jetzt kommt das Problem, wie wir unsere Särge verlassen können, bevor man uns beerdigt!«
Aber das Problem löste sich von allein.
Der Zugleiter, glücklich, Wladiwostok erreicht zu haben, ohne unterwegs von den Roten oder den Weißen erschossen worden zu sein, warf seine Dienstmütze in die Ecke und machte sich aus dem Staub. Er tauchte, wie so viele in diesen Wochen, in der Stadt unter, um erst einmal abzuwarten, wie sich alles entwickelte. Der Zar war erschossen worden, die Romanows waren ausgelöscht, bis auf die Reste der Familie, die geflüchtet waren und sich irgendwo in Europa aufhielten. Man munkelte, in Paris, London, gar New York, auch in Madrid oder Lissabon sollten sie Unterschlupf gefunden haben, aber wen interessierte das jetzt schon? Wichtiger war, was aus Mütterchen Rußland wurde. Wer würde siegen? Lenin, Koltschak oder Denikin? Was auch kommen würde, Rußlands Zarenzeit war vorbei – eine Demokratie sollte regieren.
Was heißt Demokratie, Genossen? Herrschaft durch das Volk! Wie wird das funktionieren …
Der Zugführer dieses Zuges jedenfalls wußte es noch nicht, beschloß, abzuwarten und sich in Wladiwostok bei zwei Stellen heimlich anzumelden: Bei den Untergrund-Kommunisten als begeisterter Anhänger, bei den weißrussischen Behörden als überzeugter Nationalist. So konnte nichts passieren.
Vorher aber sagte er zu dem Hauptmann, der die Truppen auf dem Bahnhof Wladiwostok kommandierte: »Im letzten Wagen, dem Güterwaggon, liegen fünf Särge für den Zentralfriedhof! Man sollte sie schnell dorthin bringen. Es ist noch immer warm …«
»Schon gut!« sagte der Hauptmann. »Wir bringen die Särge weg.«
Gregor, Grazina, Luschek und Tschugarin waren schon wieder in ihren Särgen, als von außen der Riegel der Waggontür zurückgeschoben wurde. Soldaten sahen in den Laderaum, zählten nur vier Särge, fragten aber nicht lange. Vier oder fünf Särge – vielleicht hatte sich der Hauptmann verhört oder zuviel Wodka getrunken.
Sie packten zu, schoben die Särge hinaus, trugen sie auf einen Lastwagen – und fort ging es zum Friedhof. Dort stellte man sie zunächst neben anderen Toten in der großen Halle ab. Transportpapiere gab es nicht, nur die Schildchen auf den Deckeln. Warum man Tote aus dem Tobolgebiet bis ans Japanische Meer verfrachtete, konnte nicht festgestellt werden; das war auch nicht Aufgabe der Soldaten, sondern der Zentralfriedhofsverwaltung. Zu dieser Aufgabe gehörte auch die Beerdigung selbst – eine schwere Arbeit, denn durch die ungeheuren Flüchtlingsströme gab es auch eine Unmenge Toter. Die Verwaltung war völlig überlastet, überarbeitet und am Ende ihrer Nerven.
Die vier blieben in ihren Särgen liegen, bis der Abend kam und die Halle geschlossen wurde. Dann verließen sie die Särge; Luschek schlug ein Fenster ein, und sie kletterten ins Freie. Es war höchste Zeit, denn der widerlich süßliche Geruch der Verwesung in der Halle war nicht mehr zu ertragen gewesen. Zum Glück war das Fenster nicht vergittert. Wozu auch? Es hat noch niemand einen Toten gestohlen, wenn er normal verstorben war.
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