Liebe, Lust und ein süßes Geheimnis
älter war als Lily, hatte bereits einen schweren Schicksalsschlag erleiden müssen. Gerade einmal ein Jahr war es her, dass er seine Frau Grace zu Grabe getragen hatte. Seitdem musste er sich als alleinerziehender Vater um seinen kleinen Sohn Flynn kümmern. Dass er nun auch seinen Vater verloren hatte, riss erneut eine schmerzhafte Wunde.
Lily warf ihrer Mutter Elizabeth Kincaid einen besorgten Blick zu. Doch die reagierte auf den unangenehmen Zwischenfall mit einer Haltung, wie sie nur eine Lady aus den Südstaaten aufbringen konnte. Sie ließ das Ganze mit einer Würde über sich ergehen, um die Lily sie nur beneiden konnte.
Elizabeth ertrug das gemeinsame Familienschicksal offenbar viel besser als Lily und deren zwei Schwestern. Laurel, die älteste, tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht, während Kara vor Kummer und Trauer völlig abwesend wirkte.
„Fahren Sie bitte fort, Harold“, sagte Mrs Kincaid und schob sich dezent eine Strähne des dunkelbraunen Haares aus dem Gesicht.
„Selbstverständlich, Miss Elizabeth“, sagte Mr Parsons. Wie die meisten älteren Gentlemen aus den Südstaaten sprach er sie mit „Miss“ an, einer respektvollen Anrede für eine Dame, egal ob verheiratet oder ledig.
Nachdem er die einleitenden Worte verlesen hatte, räusperte er sich und begann, den Nachlass von Lilys Vater aufzuzählen. „Meine Hinterlassenschaften sollen wie folgt verteilt werden: Meinem Sohn RJ vermache ich die Oak Lodge, das große Haus in den Smokey Mountains. Meine Tochter Laurel erhält mein Strandhaus an der Inselkette Outer Banks in North Carolina. Meiner Tochter Kara überlasse ich mein Ferienhaus auf Hilton Head Island. Meinem Sohn Matthew vermache ich das Landhaus der Kincaid-Familie, in dem wir immer unsere Ferien verbracht haben. Und meine Tochter Lily erhält das Colonel-Samuel-Beauchamp-Haus an der Battery.“
Tränen traten Lily in die Augen. Ihr Vater hatte gewusst, wie sehr sie die Battery, mit ihren alten Herrenhäusern im Kolonialstil liebte. Die Battery war eine Prachtstraße in einem gleichnamigen ehrwürdigen Viertel. Besonders berühmt war es für die Südstaatenarchitektur seiner Häuser, die noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg stammten. Es war der schönste Stadtteil in Charleston, möglicherweise sogar einer der schönsten in ganz South Carolina.
Und Lily hatte nicht einmal geahnt, dass ihrem Vater eine der prächtigsten Villen in diesem Stadtteil gehörte.
Nachdem er die Aufteilung der Häuser und des Vermögens an Elizabeth und Angela verlesen hatte, fügte Mr Parsons hinzu: „Während der letzten Änderung des Testaments gab mir Reginald diese Briefe für Sie mit der Bitte, sie Ihnen am heutigen Tag zu überreichen.“ Er gab jedem außer Elisabeth einen verschlossenen Umschlag, auf dem der Name des Empfängers stand, und fuhr fort: „Was die Anteile an Reginalds Unternehmen angeht, werden diese wie folgt verteilt: RJ, Laurel, Kara, Matthew und Lily erhalten jeweils neun Prozent der Kincaid Group. An meinen ältesten Sohn Jack Sinclair gehen fünfundvierzig Prozent.“
Eine bedrückende Stille breitete sich im Raum aus, während die Geschwister die schockierende Nachricht auf sich wirken ließen.
„Was zum Teufel …!“ Auf RJs Gesicht lag eine Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit.
Auch Lily musste tief Luft holen, denn plötzlich hatte sie das Gefühl, dass sich ihr der Magen umdrehte. Wie hatte ihr Vater das nur seinen Kindern, ganz besonders RJ, seinem ältesten Sohn und legitimen Erben, antun können? Als Vizepräsident der Kincaid Group hatte RJ Tag und Nacht am Erfolg des Unternehmens mitgearbeitet. Ihr Bruder war immer davon ausgegangen, eines Tages Präsident des riesigen Konzerns zu werden. Dass die Mehrheit der Unternehmensanteile nun an Jack Sinclair ging, war eine bittere Pille für die Kincaid-Geschwister.
RJ war völlig außer sich. „Das sind nur neunzig Prozent“, sagte er wütend. „Was ist mit den restlichen zehn?“
Mr Parsons schüttelte den Kopf. „Aufgrund der Vertraulichkeitsregel zwischen Mandant und Anwalt darf ich Ihnen darüber keine Auskunft geben.“
Auf beiden Seiten des Tisches wurde Gemurmel laut, und Lily überkam das dringende Bedürfnis, den Raum zu verlassen. Plötzlich war ihr furchtbar übel.
„Ich brauche … etwas Luft“, sagte sie leise.
Sie erhob sich, stopfte den ungeöffneten Brief ihres Vaters in ihre Handtasche und lief blindlings aus dem Konferenzraum. Sie wusste nicht, ob es der
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