Liebe ohne Schuld
ihn zur Besinnung. Als er die Augen öffnete und zum Sternenhimmel emporsah, begriff er noch nicht ganz, daß der üble Geruch, der seine Nase peinigte, von menschlichem Blut und vom Tod stammte. Er hörte leises Stöhnen, aber sein Bewußtsein reagierte noch nicht. Erst eine ganze Weile später stellte er fest, daß er sich nicht bewegen konnte, doch er hatte keine Erklärung dafür. Was war los mit ihm? Was war geschehen?
Ob er tot war? Nein, nicht tot, dachte er, aber vielleicht starb er gerade. Plötzlich stand die grausame Schlacht mit allen schrecklichen Einzelheiten wieder vor ihm, doch hastig verschloß er sein Gehirn vor diesen entsetzlichen Bildern.
Später, dachte er. Falls er ein Später erleben sollte, war noch genug Zeit, sich an alles zu erinnern.
Er überlegte kurz, ob Wellington die Schlacht wohl gewonnen hatte. Das war zumindest zweifelhaft, denn falls es ihm nicht gelungen war, die schweren Kanonen pünktlich herbeizuschaffen, hatten die Franzosen sich ergeben müssen und konnten in Ruhe nach Paris marschieren. Was war geschehen? Als er wieder einen verzweifelten Versuch machte, seine Beine zu bewegen, begriff er, daß sein totes Pferd auf ihm lag und ihn an den Erdboden fesselte. Er versuchte festzustellen, ob er verletzt war, doch er fühlte keinerlei Schmerzen. Sein Körper schien ihm nicht zu gehören. Hatte man ihn für tot gehalten und einfach liegen lassen? Nicht sehr wahrscheinlich. Wo waren seine Männer? O Gott, hoffentlich waren sie nicht umgekommen!
Sekundenlang überkam ihn panische Furcht, doch nach einigen tiefen Atemzügen hatte er sie überwunden. Im selben Augenblick fühlte er einen leichten Schmerz an seiner Seite, und sofort konzentrierten sich alle seine Gedanken darauf. Kurze Zeit später hatte er sich wieder beruhigt und beschloß, in Ruhe abzuwarten, bis Joshua kam. Joshua würde mit Sicherheit kommen. Er hatte ihn noch nie im Stich gelassen.
Dann wanderten seine Gedanken zurück, zu einem wunderschönen Frühlingstag in Sussex. Seine Erinnerung war noch sehr lebendig, so daß er das lächelnde Gesicht des Mädchens deutlich vor sich sah. Helles Sonnenlicht schimmerte auf ihren dichten Haaren. Mit ihren fünfzehn Jahren war Arielle Leslie 1811 zwar noch ein Kind gewesen, doch er hatte sie trotzdem heftiger begehrt als irgend etwas anderes in seinem Leben. Das helle, klare Lachen des jungen Mädchens klang noch immer unverändert fröhlich in seinen Ohren …
Sussex, England 1811
Im Mai des Jahres 1811 erholte er sich zu Hause von den Folgen einer Schußverletzung, die mit großem Blutverlust und heftigen Schmerzen verbunden gewesen war. Er hatte die Verwundung überlebt und war zufällig gerade rechtzeitig nach Ravensworth Abbey zurückgekehrt, um an der Beerdigung seines Bruders teilzunehmen. Montrose Drummond, der Siebte Earl of Ravensworth, wurde in der Familiengruft neben seinem Vater Charles Edward Drummond und ihrer Mutter Alicia Mary Drummond beigesetzt, was keineswegs bedeutete, daß der Dummkopf es auch verdient hatte, neben den alten Drummonds in die Ewigkeit einzugehen. Montrose hatte sich wegen einer verheirateten Frau duelliert und war von deren Ehemann geradewegs ins Herz getroffen worden. Der verrückte Narr! Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er begriffen hatte, daß jetzt er, Burke Carlyle Beresford Drummond, der achte Earl von Ravensworth war.
Nach dem Begräbnis saß die Familie in der Bibliothek. Man hatte die dichten, schweren Vorhänge ganz zurückgeschlagen, um den warmen Sonnenschein ins Zimmer zu lassen.
»Was soll jetzt nur aus mir werden?« jammerte Lannie mit lauter, verzweifelt klingender Stimme. »Und wie wird es den armen, vaterlosen Engelchen ergehen? Oh, es ist einfach schrecklich! Wenn wir nicht verhungern wollen, werde ich mich vielleicht sogar verkaufen müssen!«
Burke mußte lächeln, als er beobachtete, wie Lloyd Kinnard, Lord Boyle, sein einziger Schwager und Ehemann seiner älteren Schwester Corinne, gerade noch sein Lachen unterdrückte und statt dessen lieber hustete.
»Verzeih mir«, japste er und erntete einen vorwurfsvollen Blick von Lannie.
Burke betrachtete seine Schwägerin und wünschte inständig, sie würde endlich ihren hübsch geformten Mund halten. Ihre Klagen wiederholten sich. Offenbar war ihre Kreativität aufgebraucht. Sie konnte doch nicht im Ernst glauben, daß er sie samt ihren Kindern aus dem Haus weisen würde! Schweigen breitete sich aus, doch Lady Boyle bedachte Lannie mit einem Blick, der
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