Liebe und Verrat - 2
flach. »Du wirst schon sehen.«
Sie schaut auf. Ihre blauen Augen verschränken sich über den Fluss hinweg in meinen. Ihr Gesicht verschwimmt, als sie wieder spricht.
»Glaubst du, dass du unter dem Mantel deines Schlafes sicher bist, Lia?« Die Haut, die sich über die kleinen Knochen ihres Gesichtes dehnt, schimmert, und ihre Stimme klingt mit einem Mal tiefer. »Hältst du dich für so mächtig, für unangreifbar?«
Ihre Stimme klingt völlig falsch, und als ihr Gesicht wieder verschwimmt, begreife ich. Sie lächelt, aber diesmal nicht als das kleine Mädchen mit der weißen Schürze und den blonden Locken. Jetzt ist sie meine Schwester. Alice. Ich kann meine Furcht nicht unterdrücken. Ich weiß zu gut, was sich hinter diesem Lächeln verbirgt.
»Warum schaust du so überrascht, Lia? Du weißt doch, dass ich dich überall finden werde.«
Ich nehme mir die Zeit, um meine Stimme zur Ruhe zu zwingen. Ich will Alice meine Angst nicht spüren lassen. »Was willst du, Alice? Wir haben doch alles gesagt, was zu sagen war.«
Sie legt den Kopf schräg, und wie immer habe ich das Gefühl, dass sie mir direkt in die Seele blicken kann. »Ich glaube nach wie vor, dass du zur Vernunft kommst, Lia. Dass du die Gefahr erkennst, in die du dich selbst und deine Freunde bringst. Und auch deine Familie, jedenfalls was davon noch übrig ist.«
Alles in mir will aufbegehren, als sie meine Familie – unsere Familie – erwähnt, denn war es nicht Alice, die Henry in den Fluss gestoßen hat? Ist sie es nicht, die seinen Tod in den Fluten zu verantworten hat? Aber ihre Stimme wird weicher, und ich frage mich, ob auch sie um unseren Bruder trauert.
Als ich ihr antworte, liegt Stahl in meiner Stimme. »Die Gefahr, der wir uns stellen, ist der Preis, den wir für die Freiheit zahlen. Die Freiheit danach.«
»Danach?«, wiederholt sie ungläubig. »Wann soll das sein, Lia? Du hast noch nicht einmal die letzten beiden Schlüssel gefunden, und wenn du dich auf diesen altersschwachen Detektiv verlässt, den Vater angeheuert hat, wirst du sie wohl niemals finden.«
Ihre spöttischen Worte über Philip entfachen meine Wut erneut. Vater hat ihm die Aufgabe anvertraut, die Schlüssel zu finden, und jetzt, nach Vaters Tod, arbeitet er für mich. Er ist unermüdlich in seiner Suche. Natürlich werden mir die beiden Schlüssel ohne die restlichen Seiten aus dem Buch des Chaos nichts nützen, aber ich habe schon vor langer Zeit begriffen, dass es keinen Sinn macht, zu weit vorauszudenken. Es gibt nur das Hier. Nur das Jetzt.
Als ob sie meine Gedanken gehört hätte, sagt sie: »Und was ist mit den Seiten? Du hast doch keine Ahnung, wo du suchen sollst.« Ruhig schaut sie hinab ins Wasser und fährt mit der Hand darüber, wie das kleine Mädchen. »Deiner augenblicklichen Lage nach zu urteilen, wäre es wohl klüger, dein Schicksal in Samaels Hände zu legen. Er kann wenigstens deine Sicherheit garantieren, und die Sicherheit all jener, die du liebst.
Mehr noch: Er kann dir einen angemessenen Platz in der neuen Weltordnung verschaffen. Eine Welt, die von ihm regiert und von den Seelen bevölkert wird. Eine Welt, die kommen wird, ob du uns nun dabei hilfst oder nicht.«
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich mein Herz Alice gegenüber noch mehr verhärten könnte, aber so ist es. »Es ist doch wohl eher so, dass er dir einen angemessenen Platz in dieser neuen Weltordnung verschafft, Alice. Darum geht es doch in Wirklichkeit, nicht wahr? Das ist der Grund, warum du sogar schon als Kind Hand in Hand mit den Seelen gearbeitet hast.«
Sie zuckt mit den Schultern und schaut mich geradewegs an. »Ich habe nie vorgegeben, uneigennützig zu sein, Lia. Ich will einfach nur die Rolle einnehmen, die eigentlich mir bestimmt war, statt diejenige zu erfüllen, die mir durch die törichten Regeln der Prophezeiung aufgezwungen wurde.«
»Wenn das dein Verlangen ist, haben wir nichts mehr zu bereden.«
Sie schaut wieder ins Wasser. »Vielleicht bin ich doch nicht die geeigneteste Person, um dich zu überzeugen.«
Ich glaube nicht, dass mich noch etwas überraschen kann, dass meine Furcht, die ich im Zaum habe, mich übermannen könnte, zumindest nicht heute. Aber dann schaut Alice auf. Ihr Gesicht verschwimmt. Einen Augenblick lang sehe ich den Schatten des Antlitzes des kleinen Mädchens, ehe Alices Gesicht wieder Gestalt annimmt. Aber das ist nicht von Dauer. Ihre Miene legt sich in Falten, kräuselt sich und verwandelt sich in einen
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