Liebe und Verrat - 2
meiner wachsenden Macht und Stärke. Es spielt keine Rolle, dass ich mittlerweile Sonia in den Schatten stelle, denn eins ist sicher: Meine erblühenden Fähigkeiten sind nichts im Vergleich zum Willen und der Macht der Seelen – oder der Stärke meiner Schwester.
2
Ich ziehe die Bogensehne zurück und halte sie eine Sekunde lang gespannt, ehe ich den Pfeil abschieße. Er saust durch die Luft und landet mit einem scharfen Knall hundert Fuß weit entfernt auf der Zielscheibe.
»Du hast genau ins Schwarze getroffen!«, ruft Sonia aus. »Und das auf diese Entfernung.«
Ich schaue zu ihr hin und grinse, wobei ich an meine anfänglichen Versuche im Bogenschießen denken muss, als ich das Ziel nicht einmal auf fünfundzwanzig Fuß treffen konnte, obwohl mir Mr Flannigan, der Ire, der uns unterrichtet, nach Leibeskräften half. Jetzt trage ich Männerhosen und schieße so sicher, als ob ich mein Leben lang nichts anderes getan hätte. Erregung und Stolz fluten zu gleichen Teilen durch meinen Körper.
Und doch kann ich mich heute nicht wirklich an meiner Fähigkeit erfreuen. Immerhin ist es meine Schwester, die ich damit bezwingen will. Und wer weiß – vielleicht muss ich eines Tages meinen Pfeil tatsächlich auf sie richten. Nach allem, was passiert ist, sollte ich vermutlich froh sein, sie zu Fall bringen zu können, aber wenn es um Alice geht, sind meine Gefühle kompliziert. Mein Herz ringt mit einer verschlungenen Mischung aus Wut und Trauer, Bitterkeit und Bedauern.
»Versuch du es.« Ich lächele und lasse meine Stimme bewusst fröhlich klingen, während ich Sonia ermutige, ebenfalls auf die alte, abgenutzte Zielscheibe anzulegen. Aber wir beide wissen, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie treffen wird. Sonias Gabe beschränkt sich auf die Fähigkeit, mit den Toten zu sprechen und mit den Schwingen zu reisen. Beim Bogenschießen versagt sie kläglich.
Während sie den Bogen an ihre schmale Schulter hebt, verdreht sie die Augen. Diese scheinbar unbedeutende Geste bringt mich zum Lächeln, denn es ist noch gar nicht so lange her, dass meiner ernsthaften Freundin jede Form von leichtherzigem Humor fremd war.
Sonia legt den Pfeil an und spannt die Sehne. Ihre Arme zittern vor Anstrengung. Als sie die Sehne loslässt, taumelt der Pfeil durch die Luft und sinkt ein paar Fuß vor der Zielscheibe lautlos ins Gras.
»Hmpf! Ich glaube, diese Niederlage reicht für heute, meinst du nicht auch?« Sie wartet meine Antwort nicht ab. »Wollen wir vor dem Essen noch zum See reiten?«
»Oh ja!« Ich stimme zu, ohne lange zu überlegen. Ich bin nicht begierig darauf, die Freiheit und Lässigkeit der Männerkleidung, die ich hier in Whitney Grove tragen kann, gegen das enge Korsett und das elegante Kleid einzutauschen, die ich für die heutige Abendgesellschaft anlegen muss.
Ich hänge mir den Bogen über den Rücken, stecke die Pfeile in den Köcher und überquere gemeinsam mit Sonia den Schießplatz zur anderen Seite, wo unsere Pferde stehen. Wir sitzen auf und reiten über die Felder zu einem glitzernden Streifen Blau in der Ferne. Ich habe so viel Zeit auf dem Rücken von Sargent, meinem Pferd, verbracht, dass ich mich fast mit ihm verwachsen fühle. Während ich reite, lasse ich genüsslich meinen Blick über das herrliche, offene Land schweifen. Keine Menschenseele weit und breit. Die ungetrübte Einsamkeit der Landschaft erweckt in mir erneut Dankbarkeit, mich noch eine Zeit lang den Konventionen der feinen Gesellschaft entziehen zu können.
Die Felder erstrecken sich rund um uns. Niemand ist da, der sich über unsere unangemessene Kleidung, den Herrensattel und das Bogenschießen empören könnte – alles Dinge, die einer Dame der Gesellschaft in London verwehrt sind. Wir genießen die Weite und die frische Luft; das kleine, gemütliche Cottage von Whitney Grove haben wir bislang nur zum Umziehen und für die eine oder andere Tasse Tee genutzt.
»Wer zuerst da ist!«, ruft Sonia über die Schulter. Sie gibt ihrem Pferd bereits die Sporen, aber das stört mich nicht. Ihr einen Vorsprung zu lassen, gibt mir das Gefühl, dass wir immer noch auf gleicher Augenhöhe sind, und sei es bloß bei einem so harmlosen Spaß wie einem Pferderennen.
Ich sporne Sargent an und beuge mich über seinen Nacken, während er angaloppiert. Die Strähnen seiner Mähne schlagen mir wie schwarze Flammen ins Gesicht. Ich bewundere sein schimmerndes Fell und seine Schnelligkeit. Schon bald habe ich Sonia eingeholt, aber ich zügle
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