Lieben: Roman (German Edition)
des Jahrzehnts. Dieses Wetterfahnenhafte braucht weder Stärke noch Schwäche eines schriftstellerischen Werks zu sein, es ist vielmehr Teil seines Materials, Teil seiner Orientierung, und bei Solstad lag das Entscheidende wohl immer woanders, nämlich in der Sprache, die in ihrer neualtertümlichen Eleganz funkelt und unnachahmlich und voller Geist einen ganz eigenen Glanz ausstrahlt. Diese Sprache kann nicht erlernt werden, diese Sprache kann man nicht käuflich erwerben, und genau darin besteht ihr Wert. Es ist nicht so, dass wir gleich geboren werden und die Lebensbedingungen unsere Lebensläufe ungleich machen, es verhält sich umgekehrt, wir werden verschieden geboren, und die Lebensbedingungen gleichen unsere Leben einander an.
Wenn ich an meine drei Kinder denke, habe ich nicht nur ihre charakteristischen Gesichter vor Augen, sondern auch ein ganz bestimmtes Gefühl, das sie ausstrahlen. Dieses Gefühl, das unveränderlich bleibt, ist das, was sie für mich »sind«. Und was sie »sind«, hat seit den allerersten Tagen mit ihnen stets in ihnen existiert. Damals konnten sie ja nichts, und das Wenige, was sie konnten, zum Beispiel an der Brust saugen, reflexartig den Arm heben, sich umschauen, nachahmen, konnten sie natürlich alle, weshalb das, was sie »sind«, nicht mit dem zusammenhängt, was sie können oder nicht können, sondern eher eine Art Licht ist, das in ihnen leuchtet.
Ihre Charakterzüge, die sich bereits nach ein paar Wochen
andeutungsweise zeigten, sind ähnlich unverändert geblieben, und sie sind bei jedem einzelnen von ihnen so verschieden, dass schwer vorstellbar ist, die Bedingungen, die wir ihnen durch unser Verhalten und unsere Art bieten, könnten eine entscheidende Rolle spielen. John hat ein sanftes und freundliches Wesen, liebt seine Schwestern und Flugzeuge, Züge und Busse. Heidi ist offen und nimmt zu jedem Kontakt auf, Schuhe und Kleider sind ihr wichtig, sie will ausschließlich Röcke anziehen und fühlt sich wohl in ihrem kleinen Körper, was sich beispielweise zeigte, als sie im Hallenbad nackt vor dem Spiegel stand und zu Linda sagte, Mama, guck mal, was ich für einen tollen Popo habe! Sie erträgt es nicht, getadelt zu werden, erhebt man ihr gegenüber die Stimme, dreht sie sich weg und beginnt zu weinen. Vanja wehrt sich dagegen, sie hat ein aufbrausendes Temperament, ist willensstark, sensibel und sucht Beziehungen. Sie hat ein gutes Gedächtnis, kann die meisten Bücher, die wir ihr vorlesen, genauso auswendig wie die Dialoge in den Filmen, die wir uns ansehen. Sie hat Humor und bringt uns zu Hause oft zum Lachen, aber wenn sie woanders ist, lässt sie sich von der herrschenden Stimmung prägen, und gibt es dann zu viel Neues oder Ungewohntes, schottet sie sich ab. Diese Schüchternheit tauchte auf, als sie ungefähr sieben Monate alt war, und äußerte sich so, dass sie einfach die Augen schloss, wenn ein Fremder in ihre Nähe kam, so als würde sie schlafen. In seltenen Fällen macht sie das selbst heute noch, etwa wenn sie im Kinderwagen sitzt und wir unerwartet Eltern aus dem Kindergarten begegnen, dann schließen sich ihre Augen in Windeseile. Im Kindergarten in Stockholm, der direkt gegenüber von unserer Wohnung lag, schloss sie nach einer zaghaften und tastenden Anfangsphase enge Freundschaft mit einem Jungen in ihrem Alter, er hieß Alexander, und mit ihm tobte sie so wüst durch die Spielgeräte, dass die Erzieherinnen meinten, ab und zu müssten
sie Alexander vor ihr abschirmen, da er ihrer Intensität nicht immer gewachsen sei. Aber meistens freute er sich, wenn sie kam, und wurde traurig, wenn sie ging, und seither spielt sie lieber mit Jungen, was etwas mit dem Körperlichen und Aktiven zu tun hat, das sie offenbar vielleicht auch deshalb braucht, weil es leicht ein Gefühl von Allmacht erzeugt.
Als wir nach Malmö zogen, kam sie in einen neuen Kindergarten, der direkt am Westhafen lag, in jenem Neubaugebiet, in dem die Wohlhabendsten wohnen, und da Heidi noch so klein war, übernahm ich die Eingewöhnungsphase. Jeden Morgen radelten wir durch die Stadt, am alten Werftgelände vorbei und Richtung Meer, Vanja mit ihrem kleinen Helm auf dem Kopf und die Arme um mich gelegt, ich auf dem kleinen Damenrad mit den Knien in Bauchhöhe, leicht und froh, denn noch war für mich in dieser Stadt alles neu, und die Veränderungen des Lichts am Himmel morgens und nachmittags hatte der satte Blick der Routine noch nicht verschluckt. Dass Vanjas erste Worte am Morgen
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