Lieber Feind
wie eine öffentliche Anstalt. Ihren geschäftsuntüchtigen Köpfen war nie die Idee gekommen, daß irgendwelche Formalitäten nötig sein könnten, wenn man ein Kind in eine Anstalt steckt.
Ich erklärte, daß wir keinen Platz hätten, aber sie wirkten so verloren und entsetzt, daß ich sie aufforderte, sich so lange zu setzen, bis ich ihnen einen Rat gäbe. Inzwischen schickte ich die Kleinen ins Kinderzimmer, mit der Weisung, ihnen Brot und Milch zu geben, während ich mir ihre Geschichte anhörte. Diese Künstler hatten wohl eine verhängnisvoll literarische Note, oder vielleicht war es auch dag Lachen des kleinen Mädelchens,--jedenfalls gehörten die Kinder uns, noch bevor die Erzählung beendet war.
Ich habe noch kein sonnigeres Geschöpf gesehen als die kleine Allegra (wir bekommen selten so auserlesene Namen, noch auch so erlesene Kinder). Sie ist drei Jahre alt, lispelt eine komische Baby-Sprache und läuft von Lachen über. Die Tragödie, die sie gerade hinter sich hat, hat sie gar nicht berührt. Aber Don und Clifford, feste kleine Buben von fünf und sieben, haben schon ernste Augen und einen Schrecken vor der Härte des Lebens.
Ihre Mutter war eine Kindergärtnerin, die einen Künstler geheiratet hat; das Kapital bestand aus Begeisterung und ein paar Tuben Ölfarbe. Seine Freunde sagen, daß er begabt war, aber natürlich mußte er das Talent vergeuden , um den Milchmann bezahlen zu können. Sie lebten aufs Geratewohl in einem baufälligen alten Atelier und kochten hinter Wandschirmen, während die Kinder auf Regalen schliefen.
Doch das Ganze hatte offenbar eine sehr glückliche Seite,--sehr viel Liebe und eine Menge Freunde, die alle mehr oder weniger arm waren, aber künstlerisch und harmonierend und idealistisch. Die Knaben mit ihrer Feinheit und Zartheit beweisen diesen Teil ihrer Erziehung. Sie haben etwas an sich, was den meisten meiner Kinder, trotz allen guten Manieren, die ich ihnen beibringe, immer fehlen wird. Die Mutter ist wenige Tage nach Allegras Geburt im Krankenhaus gestorben, und der Vater hat zwei Jahre lang den Kampf weitergeführt, hat für seine Brut gesorgt und wie wild gemalt — Reklamebilder und sonstwas —, um nur ein Dach über dem Kopf zu haben.
Er ist vor drei Wochen im St. Vinzent-Spital gestorben, — Überarbeitung, Sorge, Lungenentzündung. Die Freunde haben sich um die Kinder gesammelt, diejenigen Ateliermöbel verkauft, die nicht schon gepfändet waren, die Schulden gezahlt und sich nach der bestmöglichen Anstalt umgesehen. Und, der Himmel sei ihnen gnädig! Sie sind auf uns verfallen!
Ja, da habe ich also die beiden Künstler zum Mittagessen dabehalten, — nette Leute mit weichen Hüten und Windsorkrawatten, die selber ziemlich abgerissen aussahen, und dann schickte ich sie wieder nach New York und versprach ihnen, daß ich der kleinen Familie meine mütterliche Aufmerksamkeit schenken werde.
So sind sie also hier, die eine im Zimmer der Kleinsten, die andren beiden im Kindergarten-Zimmer, dazu vier große Kisten im Keller mit den Ölbildern ihres Vaters, und auf dem Speicher ein Koffer mit den Briefen ihrer Eltern. Und ein Ausdruck in den Gesichtern, ein unfaßbares geistiges Etwas, das ihre Erbschaft ausmacht.
Sie gehen mir nicht aus dem Sinn. Die ganze Nacht habe ich mir ihre Zukunft ausgemalt. Bei den Buben ist das leicht; sie haben schon das College absolviert — mit der Hilfe von Mr. Pendleton — und gehen respektierten Berufen als Geschäftsleute nach. Aber in bezug auf Allegra weiß ich nichts. Ich weiß nicht recht, was ich für das Kind wünschen soll. Natürlich wird man gewöhnlich für ein süßes kleines Mädelchen Pflegeeltern wünschen, die an Stelle der ihm vom Schicksal geraubten Eltern treten. Aber in diesem Fall wäre es grausam, sie den Brüdern fortzunehmen, deren Liebe für das Baby herzergreifend ist. Du mußt bedenken, sie haben sie aufgezogen. Ich höre sie höchstens einmal lachen, wenn Allegra etwas Komisches getan hat. Die armen kleinen Kerle vermissen ihren Vater schrecklich. Don, den Fünfjährigen, fand ich gestern im Bett, wie er in sein Kissen schluchzte, weil er „Daddy“ nicht Gutnacht sagen konnte.
Aber Allegra ist, getreu ihrem Namen, das glücklichste kleine Fräulein von drei Jahren, das ich je gesehen habe. Dem armen Vater ist sie gut ausgefallen, und sie, die kleine Undankbare, hat schon vergessen, daß sie ihn verloren hat.
Was in aller Welt kann ich mit diesen Kleinen anfangen? Ich denke und denke an sie,
Weitere Kostenlose Bücher