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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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ein formelles „Guten Morgen“ gewechselt hatten!
    Als ich dann soweit war, daß ich mich aufsetzen und lachen konnte, meine Augen zwischenhinein immer noch einmal mit dem Taschentuch betupfend, haben wir uns an die Untersuchung von Johnnies Fall gemacht. Der Bub hat eine krankhafte Vererbung und kann leicht defekt sein, sagt Sandy. Wir müssen diesen Fall genau so behandeln wie jede andere Krankheit. Sogar normale Kinder sind oft grausam. Der moralische Sinn eines Kindes ist mit dreizehn Jahren noch unentwickelt.
    Dann hat er vorgeschlagen, daß ich meine Augen mit heißem Wasser bade und meine Würde zusammenraffe. Was ich tat. Und dann wurde Johnnie hereingeholt. Er stand — auf eigenen Wunsch — während der ganzen Unterredung. Der Doktor hat mit ihm geredet — und war so vernünftig und gütig und menschlich! John plädierte dafür, daß die Maus eine Pest sei und getötet werden müsse. Der Doktor antwortete ihm, daß das Wohlergehen der Menschheit das Opfern von vielen Tieren fordere, aber keinesfalls aus Rache, und daß das Opfer mit so wenig Schmerzen für das Tier durchgeführt werden soll wie möglich. Er hat das Nervensystem der Maus erklärt, und daß das arme Tier keine Verteidigungsmöglichkeiten hat. Es sei feige, unnötigerweise Schmerz zuzufügen. Er sagte John, er solle versuchen, so viel Phantasie aufzubringen, um die Dinge vom Standpunkt des anderen Wesens aus betrachten zu können, auch wenn dies andere Wesen nur eine Maus sei. Dann ging er ans Büchergestell, nahm meinen Band Burns heraus und erzählte dem Jungen, was für ein großer Dichter das war, und wie alle Schotten sein Andenken lieben.
    „Und hier ist, was er über eine Maus geschrieben hat“, sagte Sandy, schlug das Gedicht: „An eine Maus, deren Nest er mit dem Pflugschar umwarf“ auf, las es dem Buben vor und erklärte es so, wie nur ein Schotte das kann.
    Johnnie zog reumütig ab, und Sandy wandte mir seine berufliche Aufmerksamkeit wieder zu. Er sagte, ich sei müde und habe eine Luftveränderung nötig. Warum nicht auf eine Woche in die Adirondack-Berge fahren? Er und Betsy und Mr. Witherspoon würden ein Komitee bilden und die Anstalt zusammen leiten.
    Weißt Du, genau danach sehne ich mich. Ich brauche eine Verlagerung der Ideen und etwas Tannenluft. Meine Familie hat letzte Woche das Lager aufgemacht und findet es gräßlich, daß ich nicht dazu komme. Sie wollen nicht verstehen, daß man eine Verantwortung, die man einmal übernommen hat, nicht einfach über Bord werfen kann, wenn einem danach ist. Meine Anstalt ist wie ein achttägiges Uhrwerk aufgezogen und wird bis nächsten
    Montag um 4 Uhr weiterlaufen, alswann mein Zug mich zurückbringt. Dann werde ich mich schon wieder eingelebt haben, wenn Ihr kommt, und keine schweifenden Ideen mehr im Kopf haben.
    Inzwischen ist Master John gereinigt an Körper und Geist. Und ich habe den Verdacht, daß Sandys Moralpredigt um so wirkungsvoller war, als ihr mein Pfannkuchendreher vorausging! Aber eins ist sicher — sooft ich in die Küche komme, hat Susanne Estelle einen furchtbaren Schrecken. Heute früh habe ich gedankenlos den Kartoffelstampfer aufgehoben, während ich mich über die gestrige versalzene Suppe erging, und sie rannte in Deckung hinter die Tür der Holzlege.
    Morgen um 9 Uhr starte ich, — nachdem ich den Weg mit fünf Telegrammen geebnet habe. Und Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich darauf freue, wieder ein lustiges, sorgloses, junges Ding zu sein — auf dem See Kanu zu fahren, durch den Wald zu laufen und im Klubhaus zu tanzen. Ich war die ganze Nacht bei dieser Aussicht in einem Zustand von Delirium. Ich war mir gar nicht bewußt geworden, wie tödlich mir diese ganze Anstaltsszenerie auf die Nerven gegangen war.
    „Was Sie brauchen“, sagte Sandy zu mir, „ist, etwas fortzukommen und über die Stränge zu hauen.“
    Diese Diagnose ist geradezu hellsichtig. Ich kann mir überhaupt nichts ausdenken, was ich lieber täte als über die Stränge zu schlagen. Ich werde mit neuer Energie zurückkommen, bereit, Dich und einen arbeitsreichen Sommer willkommen zu heißen.
    Wie immer
    Sallie

    PS. Jimmie und Gordon werden beide oben sein. Wie schön es wäre, wenn Du auch zu uns kämst! Ein Gatte ist sehr unbequem.

    Lager McBride,
    29. Juli.
    Liebe Judy!
    Dieser Brief soll Dir melden, daß die Berge höher sind als gewöhnlich, der Wald grüner, und der See blauer.
    Die Leute sind dies Jahr mit dem Herauf kommen spät dran; an unserem Ende des

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