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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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war sich dessen genau bewußt. Schließlich war sie so weit, daß sie nicht einmal mehr über seine Witze lachte.
    Die meisten altmodischen, orthodoxen Leute würden es wohl schrecklich finden, eine Ehe wegen so belangloser Gründe aufzulösen. Mir ist es zuerst auch so vorgekommen; aber als sie eine Einzelheit auf die andere türmte, jede in sich geringfügig, aber zusammen doch eine gebirgige Summe, da stimmte ich mit Helen überein, daß es schrecklich gewesen wäre, weiterzumachen. Es war gar keine Ehe, es war ein Irrtum.
    Deshalb hat sie eines Morgens beim Frühstück, als das Gespräch darauf kam, was sie im Sommer unternehmen wollten, ganz nebenher gesagt, sie glaube, sie wolle in den Westen fahren und ihren Wohnsitz in einem Staat aufschlagen, wo man auf anständige Weise zu einer Ehescheidung kommen könne. Und zum erstenmal seit Monaten war er mit ihr einer Meinung.
    Du kannst Dir die empörten Gefühle ihrer viktorianischen Familie vorstellen. In den ganzen sieben Generationen ihres Aufenthalts in Amerika haben sie nie etwas Ähnliches in ihre Familienbibel einzutragen gehabt. Das kommt alles daher, denken sie, daß Helen ins College gehen und so schrecklich moderne Leute wie Ellen Key und Bernhard Shaw lesen durfte.
    „Wenn er sich nur betrunken und mich am Haar herumgezerrt ' hätte, wäre alles recht gewesen“, jammerte Helen, „aber weil wir uns nicht Gegenstände an den Kopf warfen, konnte niemand einen Grund für die Scheidung sehen.“
    Das Traurige an der ganzen Geschichte ist, daß sowohl sie wie Henry hervorragend geeignet gewesen wären, einen anderen glücklich zu machen. Sie haben nur einfach nicht zueinander gepaßt. Und wenn zwei Leute nicht zusammenpassen, können alle Zeremonien der Welt sie nicht verehelichen.

Samstag früh.
    Ich wollte diesen Brief vorgestern auf den Weg bringen; und da sitze ich: Bände sind geschrieben, aber nicht abgesandt.
    Wir hatten gerade eine der elenden, täuschenden Nächte: kalt und frostig, wenn man ins Bett geht, und warm und leblos, wenn man im Dunkeln aufwacht und unter einem Berg von Decken erstickt. Bis ich meine zusätzlichen Decken entfernt und meine Kissen aufgeschüttelt und mich wieder bequem hingelegt hatte, kam mir der Gedanke an die vierzehn eingewickelten Babys im Freiluft-Kinderzimmer. Ihre sogenannte Nachtschwester schläft die ganze Nacht wie ein Sack (ihr Name ist der nächste auf der Liste derer, die entlassen werden). Also habe ich mich wieder aufgerüttelt und eine kleine Decken-Entfernungs-Tour gemacht, und als ich fertig war, war ich hellwach! Es kommt nicht oft vor, daß ich eine nuit blanche verbringe; aber wenn ich’s tue, dann löse ich Weltprobleme. Ist es nicht komisch, wieviel schärfer der Geist ist, wenn man nachts wach liegt?
    Ich begann damit, an Helen Brooks zu denken, und ihr ganzes Leben neu zu planen. Ich weiß nicht, warum ihre elende Geschichte mich so gefangengenommen hat; für eine Verlobte ist es ein etwas entmutigendes Thema. Ich sage mir dauernd: Was wird aus Gordon und mir, wenn wir uns erst wirklich kennen und anders über unsere Liebe denken? Die Angst ergreift mein Herz und wringt es aus. Aber ich heirate ihn aus keinem Grund in der Welt außer aus Zuneigung. Ich bin nicht besonders ehrgeizig. Weder seine Position noch sein Geld haben mich je im geringsten angezogen; und bestimmt tue ich es nicht, um mein Lebenswerk zu finden; denn, um zu heiraten, muß ich die Arbeit, die ich liebe, aufgeben. Ich liebe diese Arbeit wirklich; ich gehe herum und plane und baue an der Kinder-Zukunft, und habe das Gefühl, als baute ich die Nation auf. Was auch im späteren Leben aus mir werden sollte, ich bin sicher, daß ich nach dieser ungeheuren Erfahrung um vieles fähiger sein werde. Und es ist ein ungeheures Erlebnis, das Nahe-Sein beim Menschlichen, das eine Anstalt mit sich bringt. Weißt Du, bei mir zeigt sich eine komische alte Eigenschaft; ich fange an, jede Veränderung zu hassen. Ich mag die Vorstellung nicht, daß mein Leben entwurzelt wird. Früher habe ich die Unruhe von Vulkanen geliebt; aber jetzt gebe ich unter den Landschaften dem Hochplateau den Vorzug. Ich fühle mich sehr wohl, wo ich bin. Mein Schreibtisch, mein Schrank, meine Schubladen sind so organisiert, wie es mir behagt; und ich habe einfach unaussprechliche Angst vor dem Umsturz, der sich nächstes Jahr ereignen soll! Bitte glaube nicht, daß ich Gordon nicht ebenso gern hätte, wie ein Mann es verlangen kann. Es liegt nicht daran, daß ich ihn

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