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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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sollten ihre Kleider mitbringen, aber in ihrem Schrecken dachten sie nur daran, herauszukommen.
    Inzwischen war in der Halle so viel Rauch, daß wir kaum atmen konnten. Es sah aus, als werde der ganze Bau draufgehen, obwohl der Wind von meinem Westflügel wegblies.
    Ein zweites Auto mit Angestellten von Knowltop kam fast sofort und hat gleich den Kampf gegen das Feuer aufgenommen. Die reguläre Feuerwehr war erst zehn Minuten später da. Sie haben eben nur Pferde, und wir liegen drei Meilen entfernt, und die Straßen waren in einem bösen Zustand. Es war eine grauenhafte Nacht, kalt, halb Regen, halb Schnee und solch ein Wind, daß man kaum stehen konnte. Die Männer kletterten aufs Dach und arbeiteten in Strümpfen, um nicht abzurutschen. Sie haben mit nassen Decken auf die Funken geschlagen, und gehackt, und den Tank Wasser verspritzt und sich wie Helden benommen.
    Der Doktor hat sich unterdes um die Kinder gekümmert. Unser erster Gedanke war, sie an einen sicheren Ort zu schaffen; denn wenn das ganze Gebäude abbrannte, konnten wir sie nicht einfach in das furchtbare Wetter hinausschicken, ohne anderen Schutz als ihre Nachtkleider und Decken. Inzwischen waren aber noch einige Autos voller Männer angekommen, und wir beschlagnahmten die Wagen.
    Knowltop war glücklicherweise übers Wochenende geöffnet worden, um zu Ehren von des alten Herrn siebenundsechzigsten Geburtstag eine Gesellschaft aufzunehmen. Er war einer der ersten, der ankam, und er stellte sein ganzes Anwesen zu unserer Verfügung. Es war die nächste Zuflucht, und wir nahmen sofort an. Wir packten unsere zwanzig Kleinsten in die Autos und fuhren sie zum Haus. Die Gäste, die sich gerade aufgeregt anzogen, um zum Feuer zu kommen, nahmen sie in Empfang und steckten sie in ihre eigenen Betten. Das hat fast den ganzen verfügbaren Platz im Haus beansprucht, aber Mr. Reimer (das ist nämlich Mr. Knowltops Familienname) hatte gerade eine große Scheune mit angeschlossener Garage gebaut, alles geheizt, und hielt sie für uns bereit.
    Nachdem die Babys im Haus untergebracht waren, haben sich die hilfreichen Gäste an die Arbeit begeben und die Scheune zur Aufnahme der größeren Kinder zurechtgemacht. Der Boden wurde mit Heu bedeckt, darüber Bettdecken und Wagendecken gelegt, und darauf kamen reihenweise dreißig Kinder wie Kälbchen. Miß Mathews und eine Pflegerin gingen mit und gaben überall heiße Milch ein, und innerhalb einer halben Stunde schliefen sie so friedlich wie in ihren kleinen Betten.
    Aber inzwischen hatten wir beim Haus eine Sensation. Die erste Frage des Doktors war:
    „Haben Sie die Kinder gezählt? Wissen Sie, daß alle da sind?“
    „Wir haben uns versichert, daß jeder Schlafsaal leer war, bevor wir ihn verließen“, antwortete ich.
    Du begreifst, daß sie in dem Durcheinander nicht gezählt werden konnten; ungefähr zwanzig Buben waren immer noch in den Schlafsälen und arbeiteten unter Percy Witherspoon daran, Kleider und Möbel zu retten, und die älteren Mädchen waren dabei, die Haufen Schuhe auszusortieren und den Kleinen anzupassen, die jammernd zwischen unseren Beinen herumliefen.
    Jedenfalls: nachdem wir etwa sieben Autos voll Kinder aufgepackt und abgesandt hatten, rief der Doktor plötzlich: „Wo ist Allegra?“
    Erschrecktes Schweigen. Niemand hatte sie gesehen. Und dann stand Miß Snaith auf und schrie wie verrückt. Betsy nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie, bis sie zusammenhängend redete.
    Offenbar hatte sie geglaubt, Allegra bekomme einen Husten, und um sie vor der Kälte zu schützen, hatte sie ihr Bettchen vom Frischluft-Kinderzimmer in die Vorratskammer geschoben — und vergessen.
    Nun, meine Liebe, Du weißt ja, wo die Vorratskammer liegt. Wir haben uns nur mit bleichen Gesichtern angestarrt. Inzwischen war der ganze Ostflügel ausgeweidet und das Treppenhaus in Flammen. Es schien ausgeschlossen, daß das Kind noch lebte. Der Doktor war der erste, der sich bewegte. Er ergriff eine nasse Decke, die auf einem durchweichten Haufen in der Halle auf dem Boden lag, und raste zur Treppe. Wir brüllten, er solle zurückkommen. Es war geradezu Selbstmord. Aber er kehrte sich nicht drum und verschwand im Rauch. Ich stürzte hinaus. Das Fenster der Vorratskammer war zu klein, als daß ein Mann hätte durchsteigen können, und sie hatten es nicht geöffnet, aus Angst vor dem Zug.
    Ich kann nicht beschreiben, was in den nächsten zehn qualvollen Minuten vor sich ging. Die Treppe zum dritten Stock fiel mit

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