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Lieber Feind

Lieber Feind

Titel: Lieber Feind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Webster
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ins John-Grier gekommen und hat es, laut unserem Buch des Jüngsten Gerichts, zweimal fertiggebracht, sich zu betrinken, einmal mit Bier, das er einigen Arbeitern gestohlen hat, einmal (und zwar gründlich) mit Brennspiritus. Du kannst Dir vorstellen, mit wie vielen Bedenken wir ihn fortgaben; aber wir haben die Familie (schwerarbeitende, nichttrinkende Farmersleute) gewarnt und das Beste erhofft.
    Gestern hat die Familie telegraphiert, sie könnten ihn nicht länger behalten. Ich möchte ihn bitte am Sechs-Uhr-Zug erwarten. Turnfelt ging zum Sechs-Uhr-Zug — kein Junge. Ich sandte ein Nachttelegramm, meldete sein Nichteintreffen und erbat Einzelheiten.
    Ich bin gestern länger als gewöhnlich aufgeblieben, habe meinen Schreibtisch in Ordnung gebracht und — sozusagen Mut gefaßt, ins neue Jahr zu gehen. Gegen zwölf kam mir plötzlich zu Bewußtsein, daß es spät und ich sehr müde sei. Ich war schon am Ins-Bett-Gehen, als an die vordere Türe geschlagen wurde. Ich steckte meinen Kopf zum Fenster heraus und fragte, wer da sei.
    „Tommy Kehoe“, sagte eine sehr zittrige Stimme.
    Ich bin hinuntergegangen und habe die Türe aufgemacht, und der Bursche, der sechzehnjährige, ist völlig betrunken hereingetaumelt. Gott sei Dank war Percy Witherspoon in Rufweite und nicht weit weg im Indianerlager. Ich habe ihn geweckt, und zusammen haben wir Thomas in unser Gastzimmer geschafft, der einzige anständig isolierte Ort im Gebäude. Dann habe ich nach dem Doktor telefoniert, der, wie ich fürchte, schon einen langen Tag gehabt hatte. Er kam, und wir haben eine schreckliche Nacht zugebracht. Es stellte sich nachträglich heraus, daß der Bub in seinem Gepäck eine Flasche Flüssigkeit zum Einreiben von seinem Arbeitgeber mitgebracht hatte. Sie bestand zur Hälfte aus Alkohol, zur Hälfte aus Zaubernuß; und Thomas hat sich auf der Reise damit erfrischt!
    Er war in einem solchen Zustand, daß ich wirklich dachte, wir würden ihn nicht durchbringen, — und ich habe sogar gehofft, daß wir es nicht würden. Wenn ich ein Arzt wäre, würde ich solche Fälle sanft entgleiten lassen, zum Wohle der Gesellschaft. Aber Du hättest sehen müssen, wie Sandy gearbeitet hat! Dieser fürchterliche Instinkt des Lebensrettens war in ihm aufgerührt, und er hat mit jedem Zoll Energie, das er besaß, gekämpft.
    Ich habe schwarzen Kaffee gemacht und soviel geholfen, wie ich konnte, aber die Einzelheiten waren ziemlich unappetitlich, und ich habe es den beiden Männern überlassen, ihn zu behandeln, und bin wieder in mein Zimmer gegangen. Ich habe nicht den Versuch gemacht, ins Bett zu gehen; ich hatte Angst, sie könnten mich noch einmal brauchen. Gegen vier Uhr kam Sandy in meine Bibliothek mit der Nachricht, daß der Bub schlafe, und daß Percy eine Couch hereingeschafft habe und den Rest der Nacht im selben Zimmer schlafen werde. Der arme Sandy sah aschgrau und abgehärmt aus und wie mit dem Leben fertig. Als ich ihn so ansah, dachte ich daran, wie verzweifelt er dafür arbeitet, andere zu retten, und wie er nie etwas für sich selbst tut, und an das trostlose Heim, das er hat, ohne jeden Funken Freude, und an die schreckliche Tragödie im Hintergrund seines Daseins. Der ganze Groll, den ich angehäuft hatte, schien zu verschwinden, und eine Wehe der Sympathie hat mich überflutet. Ich habe ihm meine Hand hingestreckt; er hat die seine mir entgegengestreckt. Und plötzlich — ich weiß nicht — es war wie ein elektrischer Schlag. Im nächsten Augenblick lagen wir uns in den Armen. Er hat meine Hände losgelöst und mich in den großen Lehnsessel gesetzt. „Mein Gott, Sallie! Glauben Sie, ich sei aus Eisen?“, sagte er und ging hinaus. Ich bin im Stuhl eingeschlafen und aufgewacht, als die Sonne mir in die Augen schien und Jane in verwunderter Bestürzung vor mir stand.
    Heute früh kam er wieder, sah mir, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken, kalt ins Auge und sagte mir, daß Thomas alle zwei Stunden heiße Milch haben und daß der Belag in Maggie Peters Rachen beobachtet werden müsse.
    Da sind wir also wieder auf dem alten Fuß, und ich weiß tatsächlich nicht, ob ich die eine Minute in der Nacht nur geträumt habe!
    Aber wäre es nicht eine pikante Situation, wenn Sandy und ich entdecken würden, daß wir uns ineinander verlieben, er mit einer durchaus lebendigen Frau im Irrenhaus, und ich mit einem empörten Verlobten in Washington? Ich weiß nicht, ob es für mich nicht das Gescheiteste wäre, zurückzutreten und mich

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