Lieber Onkel Ömer
regelrecht
die Sprache, wie gut sie hier über Jahrhunderte hinweg das Weihnachtsfest planen können.
Jedes Jahr, ob vor dem Millennium, während des Millenniums oder nach dem Millennium, ob mit gerader oder ungerader Zahl, ob
die Börse gestiegen oder gefallen ist, ob meterhoch Schnee liegt oder Dauerregen fällt: jedes Jahr am 24. Dezember ist, pünktlich
wie die Post (sogar noch pünktlicher), Heiligabend! Und Du wirst es nicht glauben, dann ist am 25. Dezember immer der erste
Weihnachtsfeiertag! Und dass ein Volk, das in der Lage ist, so was Grandioses zustande zu bringen, es auch noch schafft, den
26. Dezember als zweiten Weihnachtsfeiertag draufzupacken, das wundert schon gar niemanden mehr – außer uns Orientalen.
Und ob Du es glaubst oder nicht, diese wunderbare Wahnsinnspräzision findet unter den Deutschen nicht mal eine klitzekleine
Erwähnung. Sie kokettieren sogar ständig damit |258| und spielen sich gegenseitig Theater vor, indem sie höchst überrascht tun und kreischen:
»Oh, mein Gott, dieses Jahr kam Weihnachten so plötzlich und unerwartet, ich hab’s gar nicht gemerkt!«
Obwohl, wie gesagt, das Datum schon seit zweitausend Jahren feststeht und ab August nicht nur die Supermärkte und Tankstellen,
sondern ganz Deutschland am Flackern und Blinken ist.
Es kann aber natürlich auch sein, dass einige damit nur ihre Faulheit kaschieren wollen, weil sie keine Lust hatten, Geschenke
für die Sippschaft zu kaufen.
Aber in Wirklichkeit kann der normale Deutsche, sagen wir mal der Herr Hermann Krause, ganz locker und mit absoluter Zuverlässigkeit
seine Festtage planen und sagen:
»Berta, in zwölf Jahren fängt unser kleiner Sohn Uli in Darmstadt mit seinem Jura-Studium an. Und unsere Tochter Rebekka wird
sich zum dritten Mal von einem ihrer Laver getrennt haben und wird deshalb für sechs Monate in den Big-Bradda-Kontainer gehen,
um auf andere Gedanken und unter andere Männer zu kommen. Und wir beide werden dann am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem 26.
Dezember 2020, nachmittags von 14:30 Uhr bis 16:10 Uhr deine lieben Eltern besuchen und den Rest des gefüllten Vogels vom
Vortag aufessen. Ich bin gerade dabei, meinen Terminkalender bis 2025 zu ergänzen, deshalb meine Frage an dich, meine geliebte
Lebensabschnittspartnerin Berta, hättest du Lust, am 26. Dezember 2020 um 16:15 Uhr, nachdem wir meine lieben Lebensabschnitts-Schwiegereltern
besucht haben, mit mir zusammen einen kleinen dreißigminütigen Spaziergang durch die Innenstadt zu machen?«
|259| Lieber Onkel Ömer, dank des Weihnachtsfestes, das wie eine Schweizer Präzisionsuhr bis in die Ewigkeit vorkalkuliert ist,
kann das Paar Hermann und Berta die künftigen Festtage schon viele Jahre im Voraus bis ins kleinste Detail planen.
Wir Türken werden diese abendländische Fähigkeit nie erwerben können. Aber ich finde, wir sollten uns darüber auch nicht allzu
sehr ärgern. Es ist nun mal so! Wir sollten es einfach tolerieren.
Eine ganz klitzekleine Schwachstelle in dem deutschen Sicherheits- und Organisationssystem gibt es allerdings doch für unsere
beiden Helden, Hermann und Berta. Sie können zwar für das Jahr 2020 einen Termin vereinbaren, aber sie wissen nicht mal, ob
sie überhaupt im nächsten Jahr noch zusammen Weihnachten feiern werden. Sie wissen noch nicht mal, ob sie in diesem Jahr den
zweiten Weihnachtsfeiertag gemeinsam verbringen werden.
In Deutschland werden nämlich jedes Jahr sechzig Prozent aller Ehen ganz schnell wieder geschieden. Tendenz steigend! Wiederum
die Hälfte von diesen sechzig Prozent wird gleich nach den Weihnachtstagen geschieden. Tendenz noch steigender! Ganz zu schweigen
von den Lebensabschnittspartnerschaften!
Lieber Onkel Ömer, obwohl das alles für orientalische Ohren schon völlig unfassbar klingt, was jetzt kommt, wird Dich erst
recht vom Esel schubsen. Ich hoffe, Du sitzt gemütlich auf Deinem Diwan und nicht auf dem Rücken vom störrischen Tarzan! Hinter
dieser Präzisions-Maschinerie, die seit zweitausend Jahren tadellos funktioniert und für die nächsten zweihunderttausend Jahre
bereits |260| vorprogrammiert ist, steckt ein waschechter TÜRKE! Jawohl!
Falls Du jetzt vom Esel gefallen bist, hoffe ich, dass Du eine weiche Landung hattest. Aber Du hast schon richtig gelesen:
Der wichtigste Akteur des großen Weihnachts-Spektakels ist in Wirklichkeit ein TÜRKE, und er stammt sogar aus Deinem Nachbardorf!
Aus Myra, in der
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