Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
sehe Michal, die uns den Rücken zuwendet, langsam weggehen, sie trägt die hellblaue Bluse, die einmal die Farbe des Himmels gespiegelt hat, ihr Rock weht im Wind, und ich schaue ihr nach, warte, möchte ich rufen, lauf noch nicht weg, ich muss dir etwas Wichtiges sagen.
Als hätte sie meine Gedanken gehört, bleibt sie plötzlich stehen und dreht sich um und kommt zögernd auf uns zu, und ich senke den Blick, betrachte ihre Füße in den schwarzen hochhackigen Sandalen, da ist sie schon bei uns und gibt ihrem ehemaligen Mann förmlich die Hand, als würde sie ihn gerade erst kennen lernen, ihr Gesicht ist hager geworden, ich stehe wie versteinert neben ihm, halte die Luft an, aber dann wendet sie sich auch mir zu, und ich ergreife verwirrt die weiche weiße Hand, auf deren Rücken sich Adern schlängeln wie Bäche, es tut mir so Leid, flüstere ich, als beklagte sie einen Toten und ich müsste sie trösten, und sie flüstert, mir auch, es möge uns nichts Schlimmes mehr passieren, und als sich uns schwere, vorsichtige Schritte nähern, weiß ich, dass Amnon sich neben mich stellt, und ich lehne mich einen Moment lang an ihn, denn der Wind lässt uns schwanken, als wollte er unseren festen Stand prüfen, wir stehen dicht beieinander, und ich überlege, ob jemand, der uns jetzt von außen betrachtete, erkennen könnte, wer zu wem gehört.
Der Sandsturm, der wieder an Stärke gewinnt, schlägt die letzten Trauergäste in die Flucht, sie laufen davon, um sich in ihre Autos zu retten, wegzufahren und eine Wolke schmutziger Abgase zurückzulassen, sogar die Familie verlässt den frischen, mit Blumensträußen bedeckten Grabhügel, der Kleine sitzt wieder auf den Schultern seines Vaters und trägt stolz die Sonnenblume, die den Kopf hängen lässt, er schwankt bei jedem Schritt hin und her, nur wir bleiben zurück, es fällt uns schwer, uns zu trennen, wir stehen in einiger Entfernung vom Grab, um einen Flecken Erde, der von den Spaten der Totengräber noch unberührt ist, in das noch kein Mensch gesenkt worden ist, ein durchsichtiger Kreis von Kindern scheint uns zu umgeben, Kinder mit glatten, leeren Gesichtern gehen siebenmal um uns herum, wie die Braut unter dem Hochzeitsbaldachin um ihren Bräutigam, das sind unsere Kinder, jene, die geboren wurden, jene, die noch geboren werden, und die, die nie die Welt erblicken sollen.
Wütend verweht der Wind die Spuren der Trauergäste, die jetzt schon ihrer Wege gegangen sind, lässt Zeugnisse und Beweise verschwinden, bis es so aussieht, als wäre nie ein Mensch hier gewesen, wütend zerrt er an unserer Kleidung, und wir gehen langsam hintereinander zwischen den Grabsteinen hindurch, unter dem schweren Himmel, treten versehentlich auf die Reihen der Erinnerungskerzen, auf die ausgedorrten Beete, die sich an den Steinen festklammern, Michals Absätze hinterlassen kleine Löcher in der Erde, die unter Amnons schweren Sohlen wieder verschwinden, und dahinter unsere Schritte auf den schmalen Wegen zwischen den Grabsteinen, ein Schritt nach dem anderen, eine Reihe nach der anderen, wie eine Schrift, die in die Erde geritzt und nur von ihr gelesen werden kann.
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Zeruya Shalev wurde im Kibbuz Kinneret geboren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Jerusalem. Alle drei Bände ihrer großen Trilogie sind vielfach ausgezeichnete Bestseller, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden. Liebesleben wurde von Maria Schrader 2007 erfolgreich verfilmt.
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Liebesleben © 1997 Zeruya Shalev
Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel
chajej ahawa bei Keter Verlag, Jerusalem
Worldwide Translation Copyright
© The Institute for the Translation of Hebrew Literature
Für die deutsche Ausgabe
© 2000 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Mann und Frau © 2000 Zeruya Shalev
Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel
Ba’al we-ischa bei Keshet Publishers, Jerusalem
Published by arrangement with
the Institute for the Translation of Hebrew Literature
Für die deutsche Ausgabe
© 2000 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Späte Familie © 2005 Zeruya Shalev
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel
Thera bei Keshet Publishers, Jerusalem
Published by arrangement with
the Institute for the Translation of Hebrew Literature
Für die deutsche Ausgabe
© 2005 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg,
unter Verwendung einer Fotografie von © Sam Haskins
(www.haskins.com)
Erscheinungstermin dieser eBook-Ausgabe:
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