Liebesnächte in der Taiga
mit Karpuschin durch die halbe Welt, und jetzt stehen Sie hier und wollen mir helfen?«
»Später werde ich Ihnen alles erzählen, Pawel Konstantinowitsch.« Marfa lächelte, und ihr geschminktes Gesicht zeigte einen hilflosen Ausdruck. »Ich werde heimatlos wie Sie und Ludmilla sein«, sagte sie leise. »Das Leben ist blind, Semjonow, und wir laufen in ihm herum wie Schafe mit ausgestochenen Augen. Können Sie mir helfen, wenn alles vorbei ist?«
»So gut es geht, Marfa Babkinskaja, natürlich.«
»Kann ich bei Ihnen wohnen?«
»Das können Sie. Aber wir werden in den nächsten Monaten keinen Braten mehr essen, und auch die Zeit der geräucherten Störe aus der Lena ist vorbei. Maisfladen werden es sein, mit billiger Marmelade, und Reisbrei mit gesäuerten Gurken. Es braucht seine Zeit, bis man Semjonows Teppichhandel kennt.«
»Ich werde Ihnen helfen, daß man sich den Namen merkt.« Marfa senkte den Kopf. Traurigkeit überfiel sie. Man kann es verstehen, denn schwer ist's für ein junges Mädchen, die Heimat aufzugeben und Moskau nie mehr zu sehen. »Trinken Sie morgen die Milch nicht, Pawel Konstantinowitsch«, sagte sie langsam. »Heben Sie sie auf …«
»Die Milch …« Semjonows Gehirn begann zu arbeiten. Natürlich, die Milch. Wie einfach hatte man es Karpuschin gemacht. Seien wir ehrlich, unvorsichtig war man geworden oder müde und gleichgültiger. Die Flucht war zu Ende, und nun hatte man sich nach Ruhe gesehnt und das Gespenst Karpuschin aus den Gedanken verbannt. Doch Gespenster ziehen mit, wie Sandkörner in den Taschenfalten.
»Morgen früh zwischen sechs und sieben Uhr wird Karpuschin Gift in die Milch rühren. Gegenüber wird er sein, in einem dreckigen, stinkenden Zimmer, und beobachten, wie Sie die Milch ins Haus holen, wie jeden Morgen. Am nächsten Tag wollen wir dann zurück nach Moskau fliegen … Eine Abschrift des Totenscheines will er mitnehmen und in einen Rahmen spannen. ›Das schönste Gemälde wird es sein!‹ sagte er. ›Wertvoller als ein Rembrandt.‹ Er schäumte vor Haß.«
»Und was wollten Sie tun, Marfa Babkinskaja?« fragte Semjonow.
»Er wird allein nach Moskau zurückkommen.« Marfa drehte sich um und beschäftigte sich mit ihrer Tasche. Aber sie holte nichts daraus hervor, sie klappte sie nur auf und zu, auf und zu. »Geben Sie mir morgen früh die Milch, Pawel Konstantinowitsch«, sagte sie leise.
»Ich gebe sie Ihnen.« Semjonow nickte. »Wenn Gott unser Vater ist, müßte er es uns verzeihen …«
Schon am Abend, als die Dunkelheit schwer in den Gassen lag und der Mondschein schräg nur die Hauswände erhellte, schlich Karpuschin mit Marfa in das Haus gegenüber Semjonows Laden und bezog das Zimmer. Zum Schlafen war's nicht eingerichtet, aber wer Karpuschin geraten hätte, ein Stündchen einzunicken, den hätte er schallend ausgelacht.
»Schlafen?« hätte er gebrüllt vor Vergnügen. »Am schönsten Tag meines Lebens schlafen? Brüderchen, bist du ein Idiot? Am Fenster werde ich sitzen, die ganze Nacht, und das Ticken der Uhr genießen, das Kreisen der Zeiger auf dem Zifferblatt, und jede Stunde, die beendet ist, wird in meinem Herzen mit Glocken klingen: Noch fünf Stunden für Semjonow … noch vier … noch drei … Und dann dämmert der Morgen, der Milchmann geht die Gasse hinunter, mit klappernden Kannen auf seinem kleinen, flachen Wagen. Den Krug nimmt er aus der Nische, füllt ihn mit weißer, dicker, fetter Milch, eiskalte Milch, mein Freundchen, ein Genuß wird es sein, wenn sie über die Zunge rinnt … und ich werde auf die Uhr sehen und nicken und sagen: ›Wach auf, Pawel Konstantinowitsch, wach auf, damit du sterben kannst! Vorbei ist es, dein Leben.‹ Und ich werde die Uhr anhalten, damit sie für immer diese Stunde zeigt, und ich werde die Uhr unter Glas legen und sie immer ansehen. Verrückt nennst du das, Brüderchen? Du würdest es nicht sagen, wenn du wüßtest, wie sehr ein Karpuschin unter Semjonow gelitten hat. Sag nun, Freundchen – kann man da schlafen? Ich bitte dich: Eine Entweihung wäre es, zu schnarchen, wenn Semjonows Uhr abläuft …«
So hätte er gesprochen, wenn ihn jemand gefragt hätte. Aber niemand fragte ihn … Marfa setzte sich in einen alten, knarrenden Korbsessel, dessen Polster stank, als habe eine Katze darauf gejungt, und Karpuschin, stumm wie ein Fisch, setzte sich ans Fenster und verfiel in den Genuß des Tötens. Das kleine Tütchen mit dem Gift legte er auf die schmale Fensterbank, darüber deckte er
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