Liebesnächte in der Taiga
merkwürdig. Sie ging zum Zimmer 38g, klopfte an die Tür, wartete, klopfte noch einmal, dann ein drittesmal, lauter, mit der Faust.
»Sag ich's nicht«, lachte die Stupetka. »Wie ein Bär schläft er!«
Marfa schob die Unterlippe vor. Ihre schrägen Augen waren auf einmal ganz dunkel und hart. Sie drückte die Klinke herunter. Lautlos schwang die Tür ins Zimmer. Sie war unverschlossen.
»Heilige Mutter von Kasan«, stotterte die Stupetka. »Was soll das bedeuten? Es ist doch nichts passiert, Schwesterchen?«
Mit ein paar großen Schritten durchmaß Marfa das Zimmer. Wohnraum. Schlafraum. Das unberührte Bett. In den Schränken die Anzüge. Auf der Glasplatte über dem Waschbecken Rasierzeug, Rasierwasser, Zahnbürste. Auf dem Bett ein gefalteter neuer Schlafanzug.
Sie hob die Kofferdeckel hoch. Die Koffer waren noch nicht ausgepackt, die Hälfte lag noch darin. Vor allem die Unterwäsche, drei Paar Schuhe, Strümpfe. Ein Stapel Perlonhemden.
»Was ist denn?« jammerte die Stupetka und rannte Marfa durch das Zimmer nach wie ein getretenes, jaulendes Hündchen. »Was ist denn, Schwesterchen? Ist ein Verbrechen geschehen? Wo ist denn der Herr? An mir ist er nicht vorbeigekommen! Ich schwöre es beim Augenlicht meiner Mutter.«
»Laß das Heulen!« sagte Marfa Babkinskaja. »Zunächst muß es Oberst Karpuschin wissen.«
»Der alte Teufel!« Die Stupetka sank auf einen Sessel und wimmerte. »Zehn Jahre bin ich auf der Etage. Nie ist etwas passiert. Nie!« Sie rannte wie ein gejagtes Huhn hin und her und heulte wie ein junger Wolf dazwischen, als Marfa sich mit dem KGB verbinden ließ und die Sektion III verlangte. Was dann geschah, war wie ein Wolkenbruch ohne Wasser.
Oberst Karpuschin durchwühlte das ganze Zimmer, nachdem er vorher im Büro der Hotelverwaltung der verstört lauschenden Direktion erzählt hatte, wie es in den Kohlengruben von Karaganda aussieht. Dann war er in das dritte Stockwerk gefahren, hatte die Stupetka eine blinde Sau genannt und begonnen, die Koffer, die Schränke und das Bett zu durchwühlen. Zwei Beamte der Sicherheitspolizei halfen ihm dabei und kamen zu demselben Ergebnis: Der Deutsche Franz Heller war verschwunden unter Hinterlassung seiner gesamten Habe.
»Sogar sein Paß ist bei uns im Tresor«, sagte der Hoteldirektor. Karpuschin stieß einen unschönen Fluch aus und stellte sich an das Fenster.
»Zunächst ist nichts passiert«, sagte er und sah dabei jeden an. »Gar nichts! Nicht ein Wort kommt nach draußen – werde ich richtig verstanden? Das ist jetzt Sache des KGB und hat keinen Platz mehr in euren Gehirnen. Die Sachen Hellers werden sofort abtransportiert und kommen ins Magazin des Ministeriums. Das Zimmer wird neu vermietet. Der Name Heller wird aus der Gästeliste des Hotels gestrichen mit dem Vermerk: Absage. Nicht eingetroffen. Verstanden?«
Ein dumpfer Chor antwortete mit »Ja«.
Erst dann begann Oberst Karpuschin, sich um die Einzelheiten zu kümmern. Sie waren haarsträubend.
Keiner hatte Heller seit dem Betreten des Zimmers 38g mehr gesehen. Er konnte also weder mit dem Fahrstuhl noch über die Treppe das Hotel verlassen haben. An der Fassade hinunter war ebenso unmöglich, denn Zimmer 38g lag hinaus zum Maneshnaja-Platz, und es wäre aufgefallen, wenn ein Mann das Hotel Moskwa durchs Fenster verlassen hätte und nicht durch den Eingang.
»Es ist zum Kotzen«, sagte Oberst Karpuschin, nachdem er die Verhöre abgeschlossen hatte. Einen Schuldigen gab es nicht, soviel war nun klar. Wie kann man jemanden verantwortlich machen, wenn ein Mensch sich wie Gas verflüchtigt? »Das ist eine ganz neue Form der Infiltration. Ein gemeiner Trick!« Er sah die mit ihm gekommenen Offiziere an und steckte die Hände in die Taschen seines altmodischen braunen Anzugs. »Nun werden wir ihn suchen müssen, Brüderchen. Einen einzelnen Mann im großen Rußland …«
»Er wird nicht weit kommen.« Marfa Babkinskaja wagte diesen Einwand, um Karpuschin etwas aufzuheitern. »Er konnte keine Silbe Russisch …«
»O Engelchen!« Oberst Karpuschin hob den Blick zur Decke und lachte wirklich. Aber es war ein hartes Lachen. »Der wird Russisch sprechen wie Jewgenij Popow von der Kolchose ›Tausend Schweine‹! Einen Wolf werden wir jagen müssen …«
Nicht weit von der Kirche St. Nikolaus von Worobina, in der Straße Woronzowo Polje Nummer 17, wohnte der angesehene Möbelhändler Stepan Iwanowitsch Alajew mit seiner usbekischen Frau Jekaterina.
Alajew war weit und breit gut
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