Liebesparadies im Alpenschnee
das natürlich nicht erklären. Deshalb gab es für ihn nur eine Antwort.
„Ich hatte sehr viel zu tun. Grand-père kann nicht mehr so viel arbeiten wie früher. Also habe ich auch noch einen Teil seiner Arbeit übernommen.“
Philippe nickte. „Du darfst bestimmt in Grandmas Haus übernachten. In meinem Zimmer stehen zwei Betten. Mommy schläft manchmal bei mir, wenn ich weinen muss.“
Raoul zuckte zusammen. „Weinst du oft?“
„Ja. Du auch?“
„Manchmal. Ich vermisse deinen Vater. Er war mein Bruder.“
„Ich will nicht, dass er tot ist. Nur weil er tot ist, müssen wir hier leben.“ Philippes Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung.
Raoul wurde die Kehle eng. „Mir tut es auch leid, das musst du mir glauben. Sehr leid.“
Anfangs hatte er mit Entsetzen auf Crystals Entscheidung reagiert, nach Colorado zurückzugehen – vermeintlich allein aus dem Grund, weil er den Jungen vermisste. Erst mit der Zeit war ihm klar geworden, dass dahinter noch etwas anderes steckte: Auch die Trennung von ihr tat weh.
Sie hatten in den vergangenen Jahren so viel miteinander und voneinander erlebt, dass ein starkes Band zwischen ihnen gewachsen war. Als sie Chamonix verließ, tat sich eine neue Leere in ihm auf, die nichts zu tun hatte mit dem Tod seines Bruders. So verrückt es war, er vermisste sie mehr als Eric. Das kam ihm ungehörig vor, und er fühlte sich schuldig deswegen.
„Ich bin sauer auf Mommy“, sagte Philippe, und es klang, als spräche er aus tiefstem Herzen.
Raoul erging es ebenso, aber das durfte er dem Jungen natürlich nicht zeigen.
Schon eine Zeit lang vor Erics Tod hatte Crystal sich von der Familie, aber vor allem von ihm zurückgezogen. Das war ihm natürlich nicht entgangen, und so hatte er sich zu Zurückhaltung gezwungen. Und daran hielt er sich bis heute. Noch auf dem Flug hierher hatte er sich die Freude auf das Wiedersehen verboten.
Doch seit sie sich begrüßt hatten, war alles noch komplizierter geworden. Crystal ähnelte nicht mehr dem lebhaften hübschen Mädchen, das seinen Bruder verzaubert hatte. Erics Tod hatte aus ihr einen anderen Menschen gemacht.
„Warum bist du so böse auf deine Mutter?“
„Weil sie mich hierher gebracht hat. Ich will nach Hause.“
Raoul seufzte. „Fühlst du dich in Breckenridge denn fremd?“
„Ja“, sagte Philippe und sah verloren aus. „Ich will zurück nach Chamonix.“
Dass er dorthin gehörte, stand auch für Raoul fest.
„Nimmst du mich mit zurück? Bitte!“
Raoul hätte es ihm gern versprochen. Doch solange er nicht mit Crystal gesprochen hatte, durfte er sich nicht dazu äußern. „Ich habe ein Zimmer im Hotel ‚Des Alpes‘ gebucht. Es liegt ganz bei Euch in der Nähe. Wenn deine Mutter es erlaubt, darfst du heute bei mir übernachten.“
„Super! Da steht ein Schlitten in der Halle mit Glöckchen. Manchmal darf ich dort hingehen und sie klingeln lassen.“
„Du magst Schlittenglöckchen? Das wusste ich ja gar nicht.“
„Du hast Albert und mich doch mal mitgenommen zu einer Schlittenfahrt. Weißt du noch? Da haben die Glöckchen auch geklingelt.“
An was der Junge sich alles erinnerte! Und welche Gefühle sich damit verbanden! Sprach er mit Crystal darüber? Oder war sie zu sehr mit ihrer eigenen Trauer um Eric beschäftigt?
Er selbst wusste, was es hieß, den Partner zu verlieren. Um Suzanne hatte er tief getrauert. Wenn sie ein Kind miteinander gehabt hätten, wäre es wahrscheinlich noch schwerer gewesen, über ihren Tod hinwegzukommen. Trotzdem bedauerte er es, keine Kinder zu haben.
„Erzähl mir von der Schule. Wie heißt dein Lehrer?“
„Ich habe eine Lehrerin. Sie heißt Ms Miller.“
„Magst du sie leiden?“
„Sie ist ganz nett. Aber sie kann kein Französisch. Niemand hier kann Französisch sprechen.“ Dabei machte er ein gelangweiltes Gesicht und verzog ein wenig verächtlich den Mund.
Mit dieser Art erinnerte Philippe ihn verblüffend an seinen Bruder. Raoul wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Das Zusammensein mit Philippe wühlte die Vergangenheit auf und zeigte ihm, wie lebendig sie noch war.
„Aber deine Mutter spricht perfekt Französisch.“
Darauf erhielt er keine Antwort. „Und hast du schon einen Freund hier gefunden?“
„Nein.“
„Wie kommt das?“
„Albert ist mein bester Freund. Ich will keinen anderen.“
Raoul unterdrückte einen tiefen Seufzer. Er wusste, wie sehr der Junge an seinem um ein Jahr älteren Cousin hing, aber dass er sich weigerte,
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