Lied der Wale
Festlands durch ein Teleobjektiv gewesen.
Masao, Steuermann und Funker an Bord der »SeaSpirit«, beabsichtigte, spektakuläre Bilder zu schießen. Er wollte Fotos, die ins Herz trafen. Wie die Harpunen derer, denen er den Kampfangesagt hatte. Ja, er hatte sich mit Leib und Seele dieser Sache hier verschrieben. Dies war seine Welt, und es war ihm ein Anliegen, der anderen Welt da draußen klarzumachen, wie es, verdammt noch mal, auf den Meeren wirklich aussah, und dass die Zeit immer knapper wurde, um zu begreifen, dass beide Welten einander benötigten, dringend sogar, wenn sie ihr Überleben sichern wollten. Und er würde alles, was in seinen Kräften stand, dafür tun. Das war nicht immer so gewesen, doch daran wollte Masao nicht erinnert werden.
Sam steuerte auf seinen Kumpel zu und drückte ihm einen Becher mit dampfendem heißen Kaffee in die Hand.
»He, van Gogh, hat er das Ding endlich platziert?«
Ohne ein Wort zu verlieren, reichte Masao seinem Kumpel die Kamera und nahm einen tiefen Schluck. Sam justierte den Fokus eine Weile, bis ihm plötzlich die Kinnlade herunterklappte. Es sah fast so aus, als ob David auf dem Wal reiten wollte.
»Irgendwann mach ich das auch«, meinte Sam.
Masao konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Lern erst mal schwimmen.«
Sam warf ihm einen knappen Blick zu. Es war zu früh am Morgen und außerdem viel zu kalt für Scherze jeder Art. Also beförderte er die Kamera zurück in Masaos Pranke und verzog sich.
Der zoomte so nahe an David heran, dass man seine ergrauten Schläfen erkennen konnte, und betätigte mehr als zwanzigmal den Auslöser. Yep, genau so. Bilder wie diese waren es, die sie benötigten. Spektakulär eben. Unverzichtbar, wenn es darum ging, Flugblätter oder Plakate zu drucken oder in einem Vortrag zu glänzen. Bilder, die sich einprägten, Bilder, die belegten, dass eine friedliche Koexistenz zwischen Mensch und Wal möglich war.
Der Wal, der dies gerade zu bestätigen schien, trug den Namen Ketan – zumindest für die Besatzung der »SeaSpirit«. Eshandelte sich um ein Prachtexemplar eines Blauwalbullen, fast dreißig Meter lang. David, mit knapp einem Meter neunzig innerhalb seiner Spezies auch nicht als klein zu bezeichnen, wirkte neben dem Giganten wie ein Madenhacker auf einem Nashorn.
Ketans Körper war, wie der jedes Großwals, mit Muscheln besetzt, die sich auf seiner ledernen Haut angesiedelt hatten. Majestätisch langsam glitt er durch das schillernde Nass, als spürte er, dass seinem Gast eine schnellere Gangart nicht gut bekommen wäre.
Für die Besatzung der »SeaSpirit« war Ketan etwas Besonderes, handelte es sich bei ihm doch um den ersten Wal, den sie erfolgreich vor einem norwegischen Walfangschiff schützen konnten. Das Ganze lag inzwischen Jahre zurück.
Damals waren etliche Journalisten an Bord der »SeaSpirit« gewesen. Und David, Masao, Sam und Joe hatten keine Minute gezögert, sich mit ihren Schlauchbooten in die Schusslinie der Harpunen zu manövrieren. Doch sie waren einigermaßen verblüfft, als die Norweger daraufhin das Schießen sofort einstellten und abdrehten. Was auf die Besatzung zunächst wie ein phänomenaler Triumph wirkte, ließ sich im Nachhinein leicht erklären: Zu dieser Zeit, in den Monaten um den Jahreswechsel 1997/98, waren über zwanzig Pottwale an der niederländischen Nordseeküste gestrandet. Zum Teil dramatische, aber größtenteils nutzlose Rettungsversuche beherrschten die Berichterstattung. Wale waren plötzlich in aller Munde – und das eben gerade nicht als Abendessen ... Spendengelder flossen weltweit zur Rettung der Säuger, das kollektive schlechte Gewissen machte sich für ein paar Wochen Luft. In dieser Situation war es den Norwegern wohl klüger erschienen, den Fang aufzugeben, als mit aktuellen Bildern vom Abschlachten der Wale Öl ins Feuer zu gießen.
Doch das Verblüffendste war: Nach seiner Rettung verweilteKetan mehrere Tage in der Umgebung der »SeaSpirit«, ohne Anstalten zu machen, seine Route fortzusetzen. Keiner wusste genau, warum, nur David wertete es von Anfang an als Beleg für die ausgeprägte Sensibilität des Wals.
»Was gibt’s daran nicht zu verstehen; er will uns seine Freundschaft zeigen.«
Um die Geste zu erwidern, begab David sich ins kalte Wasser und vertiefte die Beziehung zu seinem neugewonnenen, einzigartigen Freund. Bei jeder Gelegenheit. Und immer kam er wie berauscht von seinen Exkursionen zurück. Steve fing schon an, ihn auf die Schippe zu
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