Haus der Erinnerungen
1
In dem Haus in der George Street stimmte etwas nicht. Ich spürte es sofort, als ich es betrat.
Ich blieb an der Haustür stehen und blickte den dämmerigen Flur hinunter, der Frau entgegen, die auf mich zukam. Im Halbdunkel sah ich, daß sie groß war, von kerzengerader Haltung und anmutig in ihren Bewegungen. Sie trug ein altmodisches bodenlanges Kleid, und das volle schwarze Haar war hochgesteckt. Mit ausgestreckten Armen eilte sie mir entgegen, und ich starrte sie einen Moment lang an, ehe ich mich nach meiner Tante umdrehte, die soeben ins Haus gekommen war und jetzt neben mir stand. »Andrea«, sagte sie, »das ist deine Großmutter.« Ich wandte mich wieder der Frau im Flur zu und traute meinen Augen nicht -
eine ganz andere kam mir da entgegen, eine schmächtige, gebeugte Frau in einem einfachen Hauskleid mit einer Wolljacke darüber.
»Hallo«, sagte ich perplex.
Die alte Frau faßte meine Hand und trat näher, um mir einen Kuß zu geben. Mir wurde plötzlich bewußt, daß ich völlig übermüdet sein mußte. Der Flug von Los Angeles hatte elf Stunden gedauert, dann war ich noch einmal eine Stunde von London nach Manchester geflogen. Die Zeitverschiebung hatte mich wohl gründlich durcheinander gebracht.
Wir umarmten uns, und im schwachen Licht des Flurs musterte eine die andere. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, was für einen Eindruck ich in jenem ersten kurzen Augenblick von meiner Großmutter hatte. Ihr Gesicht schien mir in fließender Bewegung zu sein, bald häßlich, bald strahlend schön. Ihre Gesichtszüge, die zu flackern und zu wabern schienen, waren nicht festzuhalten, und es wäre unmöglich gewesen, ihr Alter zu schätzen.
Ich wußte, daß sie dreiundachtzig war, doch ihre Augen strahlten soviel jugendliche Kraft aus, daß ich mich von ihrem Blick nicht lösen konnte. Die Spuren vergangener Schönheit, die die Zeit nicht hatte auslöschen können, ließen mich beim Anblick dieses Gesichts an eine Rose denken, die man in einem Buch gepreßt hat.
Auch als sie mich mit sich zum Wohnzimmer zog, konnte ich diese Verwirrung, die mich befallen hatte, nicht abschütteln. Als ich später am Abend dann im Bett lag, kam mir der Gedanke, daß es das Haus sein mußte, das diese eigenartige Wirkung auf mich ausübte. Es hatte eine ganz eigene Atmosphäre, der ich mich nicht entziehen konnte; beinahe, als gingen Energiewellen von ihm aus, die mich augenblicklich umfingen.
Mit meinem ersten Eintreten in das Haus schien sich eine Veränderung vollzogen zu haben, wie ein plötzliches Umschlagen der Atmosphäre. Ich hatte es von jenem ersten Moment an gespürt, als ich mir die englische Feuchtigkeit von den Schultern geschüttelt und in der Kälte kurz geschaudert hatte. Jetzt begriff ich, daß dieses unheimliche Frösteln nicht von der Kälte draußen kam, sondern von etwas anderem, von etwas ganz anderem. Ich redete mir ein, daß das Hirngespinste seien, aber das Gefühl, daß das Haus mich in seinen Sog hineinzog, war so übermächtig, daß ich in der Dunkelheit fest die Augen zudrückte, als könnte ich mich auf diese Weise schützen. Um gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen, dachte ich an die Gründe, die mich veranlaßten, hierherzukommen. Ich hoffte, daß ich vielleicht ruhiger werden und eine Erklärung für meine Stimmung finden würde. Ich versuchte mir einzureden, sie wäre auf den plötzlichen Ortswechsel in eine fremde Stadt in einem fremden Land zurückzuführen; auf den langen Flug, die merkwürdigen Umstände meiner Ankunft, die jüngsten Erschütterungen in meinem Privatleben, meine innere Unrast und Unausgeglichenheit. Aber so sehr ich mich bemühte, ich konnte das Gefühl nicht loswerden, daß dieses Haus auf mich gewartet hatte.
Ich sagte mir, es sei alles Einbildung, dieser seltsame Zustand habe sich in Wirklichkeit schon in Los Angeles eingestellt, als ich beschlossen hatte, überhaupt hierherzureisen. Drei Tage zuvor hatte meine Mutter in Los Angeles zwei Briefe bekommen.
Der erste war von meiner Großmutter, der zweite von meiner Tante. Beide schrieben, ihr Vater, mein Großvater, läge schwer krank im Städtischen Krankenhaus von Warrington, und es sei mit seinem Tod zu rechnen.
Meine Mutter nahm die Nachricht sehr schwer; vor allem deshalb, weil es ihr aus gesundheitlichen Gründen unmöglich war, nach England zu reisen, um ihren Vater noch einmal zu sehen. Sie quälte sich mit heftigen Schuldgefühlen.
Fünfundzwanzig Jahre zuvor waren meine Eltern mit meinem
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