Lied für eine geliebte Frau
Rue Bréa seit Langem keine weiÃen Russen mehr. Sie waren einer nach dem anderen gestorben. Ihre Kinder waren nach Moskau zurückgekehrt, um an dem groÃen postkommunistischen Aufschwung teilzunehmen, den man das Leben mit der Mafia nennt.
«Sei mal ehrlich: Könntest du schwören, dass du alles erzählt hast?»
«Natürlich nicht.»
«Warum hast du die andere Geschichte in einen Mantel aus Schweigen gehüllt?»
«Was meinst du?»
«Komm, du weiÃt schon, die andere Geschichte vom Tod und dergleichen. Warum hast du nichts davon erzählt?»
«Ich hatte wohl Angst. Ich glaube, Geschichten sind wie Menschen: Einige sind ungeduldiger als andere.»
«Und weiter?»
«Die Geschichten bekriegen sich wie die Menschen.»
Die beiden Brüder sahen einander an. Bis zu diesem Moment hatten sie in weit entfernten Ländern gelebt, Ländern, die sie in ihrer Kindheit bezogen hatten: Wie ist es möglich, dass ein Paar so unterschiedliche Söhne hat, fragten die Leute, wenn sie uns Brüder sahen.
Und sie hatten ihre Verschiedenheit brav gepflegt. Ihre gegensätzliche Weise zu lieben war vielleicht auch nur ein Beweis ihrer Folgsamkeit.
Trotzdem hatten sie sich unbemerkt einander angenähert. Jetzt entdeckten sie ihre Ãhnlichkeit und staunten.
«Es sind die Jahre â¦Â»
Der jüngere Bruder fasste sich als Erster. Der Ãltere war weiterhin fassungslos.
«Die Jahre? Ich verstehe nicht.»
«Das Alter, wenn du so willst. Das Alter, das hohe Alter, in das wir bald kommen. Es ist ein Land, das alle anderen Länder übertrifft.»
Langsam, ganz langsam, wie es seine Art war, dämmerte es dem Ãlteren.
«Schon möglich.»
«Das Alter ist unser gemeinsames Land.»
«Apropos, was hältst du davon, wenn wir zu unserem nächsten Essen unsere Schwester einladen?»
«Wo ist der Zusammenhang?»
«Sie ist zehn Jahre jünger als wir, ich glaube, sie hat sich ziemlich allein gefühlt.»
«Sie kann gerne kommen, natürlich! Warum haben wir so lange damit gewartet? Wir sitzen doch im selben Boot. Oder etwa nicht?»
Ich erinnere mich: Es war Ende Februar.
Ich nahm den Weg über den Boulevard Blanqui und ging die oberirdische Metrostrecke entlang nach Hause. Ein eisiger Wind wehte von der Place dâItalie herunter. Warum ist es nur gegen Ende des Winters oft am kältesten?
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* Antike Bezeichnung für die nordwestliche Küste Galliens zwischen der Seine und der Loire (Anm. d. Ãbers).
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Carlos V y sus banqueros
, Madrid 1967.
Zitatnachweise
S. 7,
Su cuerpo dejará â¦
Kann Tod vom Leben â¦:
Francisco de Quevedo,
Aus dem Turm. Moralische und erotische Gedichte, Satiren und Grotesken
, spanisch â deutsch, ausgewählt und übertragen von Werner von Koppenfels, Mainz 2003, S. 154f.
S. 62,
SÃ, tu niñez
⦠Ja, deine Kindheit â¦:
Rose aus Asche. Spanische und spanisch-amerikanische Gedichte 1900â1950
, herausgegeben und übertragen von Erwin Walter Palm, revidierte, zweisprachige Fassung, Frankfurt a. M. 1981, S. 46f.
S. 62, â¹Ich möchte schlafen den Schlaf â¦âº â¹Quiero dormir â¦âº
Federico GarcÃa Lorca,
Diwan des Tamarit
(
Diván del Tamarit
), spanisch und deutsch, übertragen von Rudolf Wittkopf und Lothar Klünner, Frankfurt a. M. 1990, S. 24f.
S. 116/117, An der Wurzel des Gefühls â¦
RicÅur en reconnaissance dâhumanité
, Interview mit Paul RicÅur, in:
LâHumanité
, 24. März 2004
S. 129, «Den 15. September muss man â¦Â»:
Winston S. Churchill,
Der Zweite Weltkrieg
, Bd. 2:
Englands gröÃte Stunde
, Buch 1:
Der ZusammenbruchFrankreichs
, übersetzt von J. Muehlon, N. O. Scarpi und E. Thorsch, S. 22
S. 131, «Nach einer Weile lieÃen â¦Â»:
Ebenda, S. 26
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Ouvrage publié avec le soutien du Centre national du livre â ministère français chargé de la culture.
Dieses Buch wurde gedruckt mit Unterstützung des Centre national du livre, einer Einrichtung des französischen Kulturministeriums.
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Die Originalausgabe erschien auf Französisch unter dem Titel:
La Chanson de Charles Quint. Roman
© Editions Stock, 2008
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Für die deutsche Ausgabe:
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2010
Umschlagbild: © Liz Dalziel/Trevillion
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