Lied für eine geliebte Frau
vortragen und immer öfter, je mehr sein viel zu groÃes Reich auseinanderfiel. Man ahnt: Nachdem er abgedankt und sich in das Kloster Yuste (Estremadura) zurückgezogen hatte, waren diese vier Verse der letzte Refrain, der ihm von der Welt blieb.
Meine Gefährtin fand diese groÃe Figur ergreifend. Am Anfang unseres Zusammenlebens holte sie mich immer vom Flughafen ab. Doch dann gingen ihr meine ständigen Reisen schnell auf die Nerven. Ich weiÃ, dass sie und ihre Freundinnen häufig über ihre reiselustigen Männer sprachen und herzlich über sie lästerten.
«Was haben sie nur, dass sie ständig unterwegs sind? Für wen halten sie sich eigentlich, für Tintin oder für Karl V.?»
Seitdem denke ich über diese Frage nach. Ich werde einmal mit ihr darüber sprechen müssen. Karl V. ist tatsächlich viel, sehr viel gereist. Ramon Carande[ ** ] hat nachgerechnet: In den fünfundzwanzig Jahren, die er fern von Spanien regierte, war er einundzwanzig Jahre (84 Prozent) unterwegs.
Doch während die «Irrfahrt» einen negativen Beigeschmackhat, schwingt im spanischen Wort «andanza» etwas ganz anderes mit: Für einen Ritter ist die «andanza» die einzig mögliche Lebensform.
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Sie friert ständig.
Langsam glaubte ich, es läge an mir.
Dass ich mir das einbildete, ist ziemlich typisch für mich. Ich halte mich gerne für die einzige Wärmequelle derjenigen, die ich liebe. Meistens für die Wärmequelle, doch manchmal auch für die Polkappe: Ich kann gelegentlich zur Eismaschine werden.
Doch allmählich bin ich bescheidener geworden. Ich begnüge mich damit, immer etwas Wollenes, einen Pullover für sie bereitzuhalten. So belaste ich sie vielleicht weniger.
«Von wem redest du?»
«Was willst du damit sagen?»
«Von der Toten oder von der Lebenden?»
«Von der Lebenden natürlich!»
«Bist du sicher?»
«Darf ich dir einen Rat geben?»
«Nur zu.»
«Kümmere dich um die Lebende.»
«Was soll das heiÃen?»
«Verwechsle sie nicht mit der Toten.»
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Ich habe auch Cora Vaucaire besucht.
Sie wohnt in einer ziemlich trostlosen StraÃe, in einer düsteren Gegend hinter dem Viertel Front-de-Seine. Für Betriebsamkeit sorgt, wenn man so will, nur ein groÃer BMW-Vertragshändler. Zum Glück sind es nur zwei Schritte bis zur Rue du Théâtre.
Ich wollte sie nicht stören. Ich blieb vor der Tür stehen, hob den Blick und sagte danke.
Ich hatte es schon lange tun wollen. SchlieÃlich verdankte ich ihr meine Krankheit. Und nachdem ich endlich wieder zu Vernunft gekommen bin: War die Chansonsängerin vielleicht schuld daran, dass ich mein Leben mit einer Gesangstournee verwechselt hatte? Oft ohne zu singen.
Als ich sie das erste Mal hörte, muss ich fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Damals kam es mir vor, als nähme sie meine Hand und führte mich mitten in diesen geheimnisvollen und wunderbaren Wald hinein, den ich gerade entdeckt hatte: die Sprache.
Es war ein Lied von Léo Ferré auf der Grundlage eines mittelalterlichen Gedichts, dessen Verfasser einen Namen trug, den ich sehr komisch fand: Mittelalter hin oder her, wie konnte man nur Rutebeuf heiÃen?
Diese Sängerin hatte eine solche Präzision, eine solche Aussprache, es war, als würde sie jede einzelne Silbe, ja jeden einzelnen Buchstaben so formen und neu erschaffen, dass ich die Worte sehen konnte, dass ich mit meinen Augen sah, wie sich die Worte in dem Lied aneinanderreihten.Wie Vögel, von denen jeder mit einer Kerze beleuchtet wird.
Es sind Freunde, die der Wind davonträgt,
Er blies vor meiner Tür
Und trug sie davon
Ich bedankte mich und ging zurück zur U-Bahn (Haltestelle Charles-Michels). Doch ich kam wieder. Ich hatte vergessen, mich noch für etwas anderes zu bedanken. Danke für Ihre Genauigkeit, Madame Vaucaire. Sie haben mir, als ich klein war, eine Ahnung davon gegeben und mich später begreifen lassen, dass Unschärfe Trägheit ist. Genauigkeit, Gestaltung und Zärtlichkeit gehören zur selben Familie.
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Es war das letzte Mal, die letzte Zusammenkunft in der Rue Bréa. Für den nächsten Dienstag würden wir einen anderen Ort finden müssen. Das Restaurant der weiÃen Russen schloss, wich einer modischeren Verköstigung,
light food
, molekulare Küche. AuÃerdem gab es in der
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