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Lied für eine geliebte Frau

Lied für eine geliebte Frau

Titel: Lied für eine geliebte Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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Saint-Samson, der Stelle in Trémazan, wo die Schiffe ins Wasser gelassen werden … den Orten, wo sie, wie sie mir gestand, auch am meisten geliebt hatte. Für sie ging das eine nicht ohne das andere: Wenn man einen Ort liebt, dann liebt man sich dort. Eine Grundregel, die uns zweimal aufs Polizeirevier gebracht hat. Nach Aussage der Beamten hatten wir Unzucht unter freiem Himmel getrieben, und wer weiß wer hätte uns sehen können. Konnte man den Ordnungshütern Unrecht geben? Der Square du Vert-Galant auf der Île de la Cité, gegenüber der Münze von Paris, liegt im Freien, daran war nicht zu rütteln. Ebenso die südöstliche Ecke der Place des Vosges, unter den Arkaden, in einer Juninacht, mit dem Rücken an der Tür des Musée Victor Hugo … Geben Sie es zu? Wie könnte man etwas nicht zugeben, das einen so über die Maßen glücklich gemacht hat? Wir waren geständig, setzten eine zerknirschte Miene auf und starrten auf unsere Schuhspitzen. Wissen Sie, was eine solche Erregung öffentlichen Ärgernisses kosten kann? Also um ehrlich zu sein – in Ihrem Alter, und noch dazu (er betrachtete meine blau-weiß-rote Karte) als Staatsrat! Als gäbe es keine Zimmer dafür. Beide Male haben uns die großen blauen Augen meiner Tänzerin aus der Affäre gezogen – «aber tun Sie es nicht noch einmal».
    Da, und auch dort, an die Wand gelehnt und am helllichten Tag, kannst du dir das vorstellen? Sie zeigte mir die Stelle, beschrieb die Zärtlichkeiten. Wir redeten immer viel über Sex miteinander, fröhlich und ungeschminkt.Der Tod hat sie noch freizügiger gemacht, noch offener. Sie spürt wahrscheinlich, dass ich erröte. Nichts erregte sie mehr, seinerzeit. Dann wuchs sie über sich hinaus. Bis sie schließlich in Tränen ausbrach: «Dabei bin ich doch eigentlich so schamhaft!»
    Â«Gut.»
    Jetzt sind wir am Strand von Tréompan, bis zu den Knien im warmen Wasser. Es ist ein langes Band aus weißem Sand, das nach Norden hin kein Ende zu nehmen scheint. Um uns herum waten Männer und Frauen langsam durchs Wasser. Sie schieben Netze vor sich her, die sie von Zeit zu Zeit mit einem Freudenschrei anheben. Kleine durchsichtige Dinger sind darin. Man könnte sie für Silberpapierschnipsel halten. Es sind Fische, junge Seezungen oder Babyschollen. Angeln verboten.
    Â«Gut …»
    Sie begann unsere Gespräche über Sex stets mit diesem kleinen Wort: «Gut.» Damit wollte sie sagen: Lassen wir das Nebensächliche und kommen wir zum Wesentlichen.
    Auf diesem Gebiet konnte ich ihr nichts vormachen. Wir hatten einander so ausgiebig erforscht. Ich erinnere mich an unser erstes Abendessen in einer Gasse im 5. Arrondissement von Paris. Das Restaurant hatte sich einen historischen oder, um genau zu sein, einen mittelalterlichen Anstrich geben wollen. Freiliegendes Gebälk, Kaminfeuer und Kerzen auf dem Tisch.
Hostellerie de Maître Albert
. Am Vorabend hatte ich einen Tisch reservieren lassen. Die Länge der Tischtücher war ausschlaggebend für die Wahl des Restaurants gewesen.
    Wir kannten uns kaum. Wir tasteten uns aneinander heran. Sprachen über die Arbeit, über die Bücher, die wirlasen, über die Schwierigkeit, sich mit Heranwachsenden zu unterhalten … Plötzlich richtete sie ihren Oberkörper auf. Sie wurde ungeduldig. Sie musterte mich, zögerte.
    Â«Gut. Sie sind sehr charmant, natürlich, aber ich frage mich …»
    Kellner erraten immer, an welchen Tischen etwas im Gange ist. Unserer hielt sich länger als nötig auf. Sie wartete, bis er ging.
    Â«Wenige Männer mögen Sex. Und Sie … Gehören Sie zu ihnen? Wir sollten offen sprechen: So gewinnen wir Zeit.»
    Der Kellner kehrte zurück. Sie tat, als beachtete sie ihn nicht.
    Â«Können Sie mit der Vorstellung leben, dass Sex unser Leben regiert? Zärtlichkeit genügt mir nicht.»
    Ich antwortete nicht. Ich begann, ihr Knie zu streicheln. Ich wanderte höher, ohne sie aus den Augen zu lassen. Unsere Teller blieben unberührt.
    Â«Schmeckt es Ihnen nicht?», fragte der Kellner regelmäßig.
    Wir aßen nichts. Nur ich das Stückchen Brot, das ich auf ihr spazieren geführt hatte.
    Ich war schnell am Ende mit meiner Kunst. Meine eigenen Erfahrungen waren eher simpler Natur. Deshalb kramte ich in der Erinnerung an das, was ich gelesen hatte. Ich murmelte ihr

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