Lillys Weg
hin.
âSie heiÃt Lillyâ, sagte die Mutter freundlich, und plötzlich kamen der erwachsenen Lilly die Tränen.
Sie war noch nie, mit Ausnahme der Ziege in Ãgypten, einer anderen Lilly begegnet und spürte Trauer über das, was aus ihr geworden war in den vielen Jahren seit ihrer eigenen Kindheit.
Es dauerte eine Weile, bis es in ihr ruhig wurde. Sie saà vor dem Haus und sah dem Nebel zu, der sich langsam über die Wiesen senkte und den Kühen signalisierte, dass es Zeit war, zu Bett zu gehen. Sie hörten auf zu grasen und legten sich mit einem letzten Abschiedsbimmeln auf die Wiese in der Nähe des Gasthofes.
Als es feucht wurde auf der Bank an der Hauswand, überÂsiedelte Lilly in die Gaststube. An einem der Tische saÃen wettergegerbte Jäger. Wortfetzen in breitem Bregenzerwälderisch wehten herüber: âD Bärohöhle ue, be do felso dumma, a Gôà gschosso.â 13 Noch hatte sie eine Schonfrist. Sie musste nicht sofort über ihre Beziehung nachdenken. Sie würde zuerst eine Käsesuppe essen und sich dann noch mit einem Zirbenschnaps Mut antrinken. Die Jäger luden sie an ihren Tisch ein. Sie waren es gewöhnt, zu Touristen freundlich zu sein. Lilly lehnte dankend ab und ging nach dem Essen auf die dunkle Terrasse hinaus.
Oskar war seit mehr als sechs Jahren in Haft und seit Juni diesen Jahres rechtskräftig zu einer Strafe von insgesamt vierzehn Jahren verurteilt worden. Ralf hatte ihr das vollständige Urteil, hundertsiebenundsiebzig Seiten, das er sich, weià Gott wo, beschafft hatte, gestern auf den Tisch in der Redaktion gelegt. Dann hatte er sich gesetzt und mit seiner unnachahmlichen Geste ein Bein über das andere geschlagen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er den Plan hatte, etwas Wichtiges zu sagen.
âEs wird Zeit, dass du dir Klarheit verschaffst, Lilly. Du kannst nicht ewig in deiner Welt leben. Mach die Augen auf und überleg dir, was du für ein Leben willst. Es dauert noch viele Jahre, bis Oskar frei sein wird.â
Das Urteil lag noch immer in einem dicken Ordner in ihrem Kofferraum. Lilly war oft genug im Gerichtssaal in Kiel gewesen und hatte vieles davon gehört. Aber sie hatte ihren Spezialfilter, der ihr erlaubte, eigene Kategorien zu erschaffen: Die Zeugen waren unglaubwürdig, der Staatsanwalt polemisch, der Richter ungerecht und die Schöffen von den Medien unzulässig beeinflusst. Oskar war das Opfer einer riesengroÃen Verschwörung und saà zu Unrecht im Gefängnis. Das glaubten auch ihre Kinder, und es war bisher gut so für Lilly gewesen. Es war ihre Âgewohnte Spur. Seit vielen Jahren. Aber war es wirklich noch immer ihre Spur?
Sie ging auf ihr gemütliches Zimmer, setzte sich, noch immer bekleidet, auf ihr Bett, lehnte sich mit dem Rücken an der Holztäfelung an und holte ihr Tagebuch heraus.
3. September 1997
Ich bin die routinierte Frau eines Verurteilten. Das Gefängnis ist ein Ort geworden wie das Café um die Ecke. Ich kann hingehen, ohne dass sich mein Magen verkrampft, und begegne entspannt Oskar, der dort als âking of knastâ lebt, wie Ralf es nennt. Geachtet, geschätzt, von seinen Bewachern immer wieder für Zusatzaufgaben eingesetzt. Er hat sich voll eingelebt, arbeitet als Ãbersetzer, wenn Häftlinge eingeliefert werden, die nicht Deutsch sprechen, ändert geschickt in der Schneiderei, in der er unter anderem arbeitet, die Lederjacken der Beamten, die zu dick geworden sind, hilft in der Bibliothek aus, tröstet die Verzweifelten und hält sich mit Joggen im Hof fit.
Und was ist aus unserer Liebe geworden? Ich funktioniere und stelle nichts infrage. Weder seine Unschuld noch meine Abwesenheit als Frau. Meine Leidenschaft für ihn ist eingetrocknet wie ein Brunnen, um den sich niemand kümmert. Das, was Leiden schafft, hat sich mit den Jahren über alles gelegt, was ich früher empfunden habe. Liebe ich Oskar noch? Ich habe mir diese Frage jahrelang nicht mehr gestellt. Sie ist nicht zulässig, wenn dein Mann im Gefängnis sitzt.
Was ich sicher weiÃ: Es ist lange her, dass ich mit ihm glücklich war. Und was davon war echtes Glück und was davon war Unglück, das uns zusammengeschmiedet hat? Ich bin nicht mehr die Lilly, die naiv in eine Hochzeit gestolpert ist, mit einem Mann, der für mich, ohne dass ich es wusste, ein besserer Vater hätte sein sollen und stattdessen ein untreuer Ehemann
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