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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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nahm den dicken Ordner zur Hand und begann zu lesen. Nicht chronologisch. Einfach so, querbeet. Es war, als ob sie ­einen Vorhang zurückzog und sich etwas zeigte, was schon immer da gewesen war.
    Oskar war ein Betrüger. Mindestens.
    Er hatte gemeinsam mit Paolo, dessen Mitarbeiter er war, eine angebliche Uranerzaufbereitungsanlage, die in Wirklichkeit keine war, auf ein Schiff geladen.
    Das Ziel der Aktion war, so urteilte das Gericht, ein groß ­angelegter Versicherungsbetrug, für den über Jahre Papiere gefälscht, falsche Zeugenaussagen gemacht, fingierte Käufer erfunden wurden. Was auch immer die Wahrheit dahinter sein mochte. Das Ende der Geschichte war bitter und eine Realität. Das Schiff explodierte im Indischen Ozean, sechs Seeleute starben, und Paolo wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und Oskar wegen Beihilfe zum Mord, weil er laut ­Gericht die Morde zumindest in Kauf genommen hatte.
    Lilly spürte, wie Übelkeit in ihr hochkam. Wieso hatte ihr Mann nie mit ihr geredet? Wieso hatte er ihr Drängen, als sie die Wahrheit wissen wollte, ignoriert? Und warum war sie nicht drangeblieben? Sie schämte sich. Sie hatte sich wie eine Idiotin benommen. Alle Fakten ignoriert.
    3. September 1997, nachts
    Noch immer derselbe Tag hier auf der Kanisfluh. Aber ein paar Stunden später stehe ich an einer anderen Stelle. Ich akzeptiere jetzt zum ersten Mal, dass Oskar nicht unschuldig ist. Er ist als Mitarbeiter von Paolo zum Betrüger geworden. Und auch zum Mörder? Ich weiß, und dafür lege ich nach wie vor meine Hand ins Feuer, dass Oskar nie in der Lage wäre, einen kaltblütigen Mord zu planen. Er kann dazu niemals Ja gesagt haben. Er ist ein guter Mensch. Das Gericht nimmt an, dass eine Panne passiert sein könnte. Das Schiff, das ursprünglich die Ladung aufnehmen sollte, hatte eine Havarie und war plötzlich nicht mehr einsetzbar. Das Ersatzschiff, die Esmeralda, war kleiner und die neue Besatzung war in den Betrug nicht eingeweiht. War die Sprengladung, die für ein anderes Schiff berechnet worden war, zu stark? Oder sollten alle absichtlich sterben? Nicht mit einem Ja von Oskar. Und auch nicht mit einem Ja von Paolo, so wie ich ihn kennengelernt habe. Doch der bittere Geschmack in meinem Mund bleibt. Mein Ehrenmann hat eine schmutzige Weste und ich habe die Augen davor zugemacht.
    Plötzlich tauchen die Menschen vor mir auf, die auf der ­Esmeralda verletzt wurden oder gestorben sind. Ich war so
mit meinem eigenen Schicksal beschäftigt, dass ich nie an sie gedacht habe. Ertrunken oder stundenlang mit blutenden ­Wunden auf See ausgesetzt. Ich lese die Zeugenaussagen der Überlebenden.
    Ein Bild rückt sich zurecht, ich verlasse meine Selbstgerechtigkeit und finde mein Mitgefühl. Für alle, die an diesem Unglück beteiligt waren. Gleichzeitig bin ich fassungslos, was ich all die Jahre verdrängt habe, und frage mich, wie ich so lange blind sein konnte. Blind, damit ich mich und unsere Kinder schone.
    Es war eine schlaflose Nacht, in der ihre neue Erkenntnis schwer wog. Lilly hörte jede Kuh, die den Kopf bewegte und dabei mit ihrer Glocke läutete, sie konnte mitzählen, wie oft die anderen Gäste auf die Toilette gingen, und als die kleine Lilly, die mit ihren Eltern im Nebenzimmer wohnte, kurz weinte, dachte sie an ihre eigenen Kinder. Lea war inzwischen über sechzehn und Niklas hatte im Juni seinen vierzehnten Geburtstag gefeiert. Wie sollte sie ihnen jetzt plötzlich klarmachen, dass der jahrelange Text vom unschuldigen Vater wahrscheinlich falsch gewesen war? Und würden die Tatsachen sie überhaupt interessieren? Musste sie es überhaupt interessieren?
    Als es endlich hell wurde, zog sie sich an, setzte sich mit einem Kaffee auf die Terrasse und wartete auf Ella.
    Das Ritual der beiden Frauen begann wie immer. Auf der ersten Strecke bis zum Drehkreuz, das die Eingangspforte in das magische Kanisfluhland war, sprachen sie über Kleinigkeiten des Alltags. Im nächsten Abschnitt, der bis zu einem kurzen steilen Stück dauerte, wo ein Seil an einem Baum Aufstiegshilfe leistete, ging es schon um echte Themen. Und dann, als die Almen unter ihnen immer kleiner wurden und sie sich immer mehr den großen, ewigen Felsen näherten, destillierten sich die Gespräche zu ihrer Essenz. Es war ein langsamer Aufstieg mit vielen Pausen, weil sie meistens stehen blieben und einander

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