Lillys Weg
wurde. Ich bin achtÂundvierzig Jahre alt und wahrscheinlich ist mindestens die Hälfte meines Lebens vorbei. Angefüllt mit Dramen, Einsamkeit und Ãberlastung.
Und wofür? Für Oskar, der, wenn er wegen guter Führung früher entlassen wird, in ein paar Jahren wieder nach Hause kommt. Und dann? Dann würde ich verlangen, dass ich es für den Rest meines Lebens gut mit ihm hätte. Dann würde ich fordern, dass er mein leeres Liebeskonto wieder füllt. Und er? Er wird einen Nachholbedarf von vielen Jahren haben. Er wird sein Leben genieÃen wollen und endlich zärtlich umsorgt werden. Von wem? Von mir?
Ich stelle mir diese Fragen zum ersten Mal. Und weil Oskar weit weg hinter dicken Mauern sitzt und sich gegen meine Gedanken nicht wehren kann, habe ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich bin seine Frau und ich habe ihm versprochen, in guten und in schlechten Zeiten an seiner Seite zu sein. Und er? Wann war er an meiner Seite? Die Waage neigt sich auf meine Seite. Ich habe so viel in diese Beziehung investiert, dass ich jetzt leer bin.
Ist das der Kuchenesser, der sich leise über diese Jahre der Entbehrungen angeschlichen und meinen Liebeskuchen aufgegessen hat?
Ich stehe noch einmal auf und gehe in die dunkle Nacht hinaus. Es gibt keine Sterne, die mir den Weg zeigen, der Hochnebel schluckt alles, was sich ihm in den Weg stellt.
Der dicke Ordner in meinem Kofferraum ist ganz kalt
von der Bergluft. Ich nehme ihn in die Hand, er wiegt schwer. So viele Jahre meines Lebens hat dieser Fall Esmeralda aufgefressen.
Als Lilly in ihr Zimmer zurückkam, legte sie den Ordner auf das Nachtkästchen aus Holz und setzte sich wieder ins Bett. Sie hatte vor Jahren eine Geschichte über Die Glücksfalle geschrieben. Der Autor des gleichnamigen Buches, Russ Harris, schlug im Kapitel âFolge deinem Herzenâ vor, dass wir uns immer wieder selbst fragen sollten, wo wir stehen und was wir wollen. Sie holte ein Blatt Papier und schrieb die Punkte von damals sinngemäà auf. Es war nicht schwer, sich zu erinnern, sie hatte eine Weile lang mindestens einmal im Jahr diese Ãberprüfung für sich gemacht. Aber das war vor Oskars Zeit.
Was ist tief in deinem Inneren wichtig für dich?
âDie Kinderâ, schrieb Lilly und wunderte sich, dass Oskar nicht dabei war.
Was möchtest du für ein Leben führen?
âKeine Ahnungâ, dachte Lilly spontan und erschrak so, dass sie es nicht wagte, den Satz aufzuschreiben.
Was für eine Art von Person möchtest du sein?
âIch weià nicht einmal mehr, wer ich jetzt binâ, schrieb sie auf das Blatt und spürte zutiefst, dass er der Wahrheit entsprach.
Welche Art von Beziehungen möchtest du aufbauen?
Auch darüber hatte Lilly schon Jahre nicht mehr nachgedacht. Sie hatte sich ausschlieÃlich um Oskar und die Kinder gekümmert und war Gott sei Dank von einem Sternenkranz von guten Freunden umgeben. Sie machte ein Fragezeichen und ging zum nächsten Punkt.
Wenn du keine Probleme und Ãngste mehr hättest, wofür würdest du deine Energie und deine Zeit verwenden?
Lilly sah eine groÃe, leere Fläche vor sich. âIch weià es nichtâ, schrieb sie auf ihr Blatt und wusste in dieser Sekunde, dass Ralf recht hatte. Ihr Leben konnte so nicht weitergehen.
Sie ging in die Wirtsstube zurück, in der noch immer die Jäger saÃen, inzwischen mit einem jungen Mann, der sich als Bauer vorstellte, dem die Kühe vor der Tür gehörten.
âWas macht eine Frau wie Sie in diesem geistig engen Tal?â, fragte er, ermutigt durch eine neue Runde Zirbenschnaps, die der Wirt gerade gebracht hatte.
âIch denke über mein Leben nach, und dafür sind diese weiten Berge wunderbar.â
Er nickte bedächtig und schien sich nicht zu wundern.
Lilly sprach leise, als sie mit ihrer Freundin am Telefon, das in der Gaststube stand, redete: âBitte, kannst du mit mir morgen auf die Kanisfluh gehen, ich muss mein Leben sortieren.â
Ella sagte sofort zu. Es war ein altes Ritual zwischen ihnen. Wenn die Themen, die sie zu besprechen hatten, leicht waren, gingen sie aufs VorsäÃ. In schweren Fällen half nur die Kanisfluh. Diese heilige Wächterin, die sich von den Dramen der kleinen, vergänglichen Leben nicht beeindrucken lieÃ.
Zurück im Zimmer schlüpfte Lilly in ihr Seidennachthemd, putzte sich die Zähne und setzte sich wieder ins Bett.
Sie
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