Lillys Weg
ansahen, wenn eine Aussage besonders bewegend war, oder wenn das Licht, die Wolken, der Wind oder die Tiere der Berge ihnen eine Nachricht schickten.
Die Kanisfluh ist ein beliebter Berg. An sonnigen Tagen Âsteigen ganze Karawanen von Wanderern den schmalen Weg hinauf. Doch heute hatte der Wind, der sich ständig überlegte, ob er auch den Regen einladen sollte, für unbeständiges Wetter gesorgt, und damit für Ella und Lilly Raum geschaffen. Niemand war zu sehen. Sogar die Steinböcke, die am Morgen
noch rund um den Gipfel geäst hatten, waren weg. In diesem
heiliÂgen Raum erholte sich Lilly von dem Schmutz, mit dem sie sich in der Nacht selbst beworfen hatte, und wurde langsam still.
âEs geht um unsere Urkraftâ, sagte Ella. âDarum, dass wir alle Beschränkungen aufheben, die uns davon trennen. Die Urmutter wartet darauf, dass wir endlich unseren Platz einnehmen.â
An der Stelle, an der die Nachricht in Lilly ankam, lag ein Stein, der aussah wie die Felsen der Kanisfluh. Sie hob ihn auf, gemeinsam mit einer weiÃen, kleinen Feder, und ging schweigend bis auf den Gipfel weiter. Ella, die verstand, dass sie allein sein wollte, nahm vorübergehend einen anderen Weg und sammelte Kräuter. Lilly trug den Stein vor sich her und spürte, wie ihre Arme schwer davon wurden. Aber jedes Mal, wenn sie ihn am Wegrand deponieren wollte, gab es keine innere Erlaubnis für die Erleichterung. Als sie ihn endlich am Gipfel ablegte, war sie schweiÃüberströmt und erschöpft. Das groÃe Metallkreuz bedeutete für Lilly nur, dass sie angekommen war. Als christliches Symbol mochte sie es nicht, weil es das Leid betonte. Als Rückenlehne war es wunderbar. Sie setzte sich und holte ihr Tagebuch heraus.
4. September 1997, auf dem Gipfel der Kanisfluh
Mein Haar hängt mir ins Gesicht. Ich kann kaum etwas sehen und keuche die letzte Viertelstunde unsicher über Geröll und Wurzeln. Ich habe mir in den letzten Jahren viel zu wenig Zeit für mich genommen und bin völlig untrainiert. Und plötzlich verstehe ich es: Das ist mein Leben. Blind, mit einer schweren Bürde, die ich mir selber aufgeladen habe, taumle ich durch mein Leben. Das Einzige, was leicht ist, ist die kleine, weiÃe Feder.
Hinter mir in meinem Rücken liegt der Nebel. Er hüllt Mellau mit allem, was dazugehört, ein. Meine Kindheit ist auch dabei. Mein Bemühen, es allen recht zu machen, meine Anstrengung, dazuzugehören. Vor mir, auf der Seite des Berges, die Au zugewandt ist, hat der Wind den Nebel vertrieben, weite Almen breiten sich im Sonnenschein aus, und links von mir ist der Sonnenkopf in Licht getaucht. Das ist es, was ich will. Ein lichtvolles, leichtes Leben. Und plötzlich verstehe ich, dass die Entscheidung ganz bei mir liegt.
Ich sehe Ella den Weg heraufkommen. Sie trägt in der Hand Kräuter und Wurzeln mit halb verwelkten Blättern und schaut mich einfach nur still an, als ob sie auf etwas wartet.
Die klare, reine Luft der Kanisfluh hilft mir zu meiner eigenen Klarsicht.
âElla, ich werde Oskar verlassenâ, sagt es aus mir heraus, und ich spüre, dass es wahr und richtig ist. âIch gehe nicht, weil ich noch so viele Jahre auf ihn warten müsste. Auch nicht, weil er vielleicht Dinge getan hat, die schlimm waren. Ich gehe, weil ich meine Urkraft in mir spüre, und für diese Frau, die in mir Raum will, ist er nicht mehr der richtige Mann. Ich habe mich in all diesen Jahren zu einer anderen entwickelt. Ich bin ein Edelstein und Oskar hat mir durch sein Schicksal, an dem ich teilhaben durfte, dabei geholfen, ihn zu schleifen. Es gibt keinen Groll und kein Bedauern. Unsere Wege haben sich für viele Jahre verbunden. Weil es so war und weil es so sein sollte. Und weil nur durch uns beide diese wunderbaren Kinder in die Welt kommen konnten. Mein Weg ist ab heute ein anderer.â
Ella nickt, als ob sie es immer schon gewusst hätte. Sie deutet auf ein paar Wanderer, die auf den Gipfel zukommen.
âLass uns zu unserem geschützten Platz weitergehen.â
Dann sitzen wir still auf unseren Rucksäcken. Es gibt nichts zu sagen. Als wir wieder aufstehen, bläst der Wind die letzten ÂNebelreste weg und Mellau liegt im strahlenden Sonnenlicht. Dort unten im Tal warten Oskars und meine Kinder auf mich.
Erstaunlicherweise hatte sich Lilly in all den Jahren die Naivität bewahrt, zu glauben, dass alles, was sie fühlte,
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