Lindenallee
mich Friedrich damals als Junge interessierte. Mir fiel es schwer zu begreifen was es war, ich weiß nur, ich war sofort von ihm und seiner Ausstrahlung gefangen. Ich wusste, ich wollte ihn unbedingt kennenlernen.
Meinen Bruder Heinz, der hinter mir stand, hatte ich völlig vergessen. Er brachte sich in mein Bewusstsein zurück, indem er mir an den Zöpfen zog. Ohne Nachzudenken drehte ich mich um und schubste ihn. Ich hatte es als Mädchen nicht leicht, aber ich wusste mich zu wehren.
„Hee, du Blödian", warf ich ihm an den Kopf.
„Du blöde Ziege", konterte er.
„Ich bin keine Ziege, du Dummi."
„ Nee, vielleicht eine Gans.“
„ Und du bist ein Hornochse.“
So ging es weiter, wir alberten herum und warfen uns gegenseitig gutgemeinte Beschimpfungen an den Kopf. Friedrich beobachtete uns und auf seinem Gesicht tauchte ein belustigtes Lächeln auf. Heinz behielt Friedrich während unseres Wortgefechtes neugierig im Auge. Wir beide waren an dem Neuen interessiert, aber im Laden von Frau Hübner und in Gegenwart der Erwachsenen, wollten wir es nicht offen zeigen. So zogen Frau Stein und Friedrich mit ihren Einkäufen nach Hause, wir geduldeten uns, wir würden eine Möglichkeit bekommen, ihn kennenzulernen.
Frau Wagner unterbrach sich. „Sagen Sie, haben Sie vielleicht etwas zu trinken? Das Erzählen macht mich durstig."
„Ach, wie unhöflich von mir", stellte Paula fest. Sie stand auf und ging in die Küche. „Was möchten Sie trinken? Meine Mutter hat eingekauft." Paula sah im Kühlschrank nach, den ihre Mutter mit zahlreichen Lebensmitteln und Getränken vollgestellt hatte. „Danke, Mama", sprach Paula in den geöffneten Kühlschrank.
„Wie bitte?", fragte Frau Wagner aus dem Schlafzimmer.
„Ich kann Ihnen Wasser, Brause oder Milch anbieten."
„Dann nehme ich Wasser, aber bitte nicht aus dem Kühlschrank, das ist zu kalt."
Paula blickte sich in ihrer Küche wie eine Fremde um und entdeckte doch tatsächlich in der Ecke eine Kiste Wasser. Wann haben die denn meine Eltern mitgebracht?
Sie entnahm eine Flasche und griff sich ein unbenutztes Glas, das ihre Mutter ebenfalls mitgebracht hatte. Seufzend kam sie mit den Sachen ins Schlafzimmer zurück. Frau Wagner hatte das Seufzen bemerkt.
„Was haben Sie denn? Geht es Ihnen gut? Ist Ihnen schwindelig?"
„Nein, nein, alles in Ordnung. Ich muss gerade nur etwas den Kopf darüber schütteln, dass ich in einer neuen Wohnung bin und außer mein Bett selber aufzubauen, noch nichts weiter geschafft habe. Meine Eltern haben vieles erledigt, während ich kränkelnd niederlag."
Paula stellte das Glas auf einen Umzugskarton, öffnete die Flasche und goss Frau Wagner ein. Sie füllte sich selbst Wasser in die Teetasse, die vom morgendlichen Frühstück stehen geblieben war.
„Es ist doch schön zu wissen, dass die Familie da ist, wenn man sie braucht. Und wenn Sie wieder richtig fit sind, dann machen Sie den Rest fertig." Frau Wagner nahm das Glas und trank einige Schlucke. Sie stellte es ab und sah Paula an. Sie hatte noch nie einem Menschen ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie fand Gefallen daran, diese mit der jungen Frau zu teilen.
„Da ich Ihnen so viel von mir erzähle, würde es mich freuen, wenn Sie mich Magarete nennen", schlug Frau Wagner überraschend vor.
Paula stelle ihre Tasse ab. „Sehr gern. Ich bin Paula." Paula hatte das Bedürfnis, Magarete in den Arm zu nehmen und zu drücken. Sie riss sich zusammen. Ich kenne diese Frau gerade mal einen Tag und ich habe sie in mein Herz geschlossen, bemerkte sie verwundert.
Die beiden Frauen sahen sich einen Moment an. Sie verband etwas, das weder Paula noch Magarete in Worte zu fassen vermochte. Magarete räusperte sich. „Bist du erschöpft oder soll ich dir noch ein bisschen erzählen?"
„Ich würde mich freuen, wenn du mir mehr erzählst. Ich vermute, die Geschichte geht jetzt erst richtig los, oder?"
Magarete nickte, stellte ihr Glas ab und nahm eine bequeme Position auf dem Stuhl an. Sie erinnerte sich an den Punkt, an dem sie ihre Erzählung unterbrochen hatte.
Also, wie schon gesagt, der Dorfladen von Frau Hübner war nicht der beste Ort, um eine neue Freundschaft zu schließen. Eine Freundschaft mit einem Jungen, bei dem uns die Eltern einbläuten, dass dieser für uns Tabu sei. Ein Junge ohne Vater und mit unverheirateter Mutter. Ein Skandal, aber ich glaube, das sagte ich schon.
Allerdings scheren sich Kinder nicht immer um gut gemeinte Ratschläge der Erwachsenen.
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