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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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er da ist. Der Schwindel lässt ein wenig nach, während ich die kalte Nachtluft einatme und auf ihn warte. Gemächlich stapelt er die Pizzakartons aufeinander und läuft erst los, als er sich sicher ist, dass sein Kartonturm in sich stabil ist. Ich muss lächeln. Ja, das ist Simon, endlich einer von uns, der geblieben ist, wie er war.
    »Ich bin spät dran. Entschuldige bitte. Guten Abend, Lavinia.«
    Er stellt die Kartons akkurat auf dem Boden ab, zieht sich einen Bügel von der Garderobe, legt seinen Mantel darüber, stopft den Schal in den Arm – so etwas habe ich bisher nur im Film gesehen, nicht bei einem wahrhaftigen Menschen – und streckt mir seine rechte Hand entgegen.
    »Du … du trägst einen Anzug«, stottere ich perplex. Einen grauen Einreiher, um genau zu sein, darunter ein weißes Hemd, da tröstet es mich nur wenig, dass er die Krawatte gelockert hat. Es ist erschreckend genug, dass er sich überhaupt eine umgebunden hat. Und seine Augen … Sie kommen mir kleiner vor, wie bei Falk. Ist das so bei Männern, wenn sie älter werden? Frisst das Gesicht ihre Augen auf? Nein, Falk hatte nie große Augen und Simon trägt eine Brille, ja, es wird an der Brille liegen. Seine Wangen sind schmal geworden. Ich vermisse sein Mondgesicht, wo ist sein Lachen mit den länglichen Grübchen geblieben?
    »Hallo, Simon.« Da er seine Hand nicht wegnimmt, gebe ich nach und reiche ihm meine, doch der Druck seiner Finger ist schlaff und flüchtig. Sofort entzieht er mir seine wieder, als sei diese Begrüßung eine Geste, die er nur ausführt, weil sie nun mal von ihm erwartet wird. Früher haben wir uns umarmt.
    Was ist eigentlich geschehen, zum Henker? Okay, fünf Jahre, das kann eine lange Zeit sein. So lange hat die Band gar nicht existiert. Trotzdem komme ich mir vor wie im falschen Film.
    »Ich habe dir eine Pizza mit Salami und Pilzen mitgebracht. Hat sechs Euro fünfzig gekostet, du kannst mir das Geld jetzt geben oder ich schreibe es auf und wir verrechnen es mit dem Benzingeld.«
    »Benzingeld?«, echoe ich verständnislos. Simon will Benzingeld für die Fahrt zum Pizzabäcker veranschlagen?
    »Ach, dann weißt du noch gar nichts. Schließt du bitte die Tür? Wir müssen ja nicht den Hof heizen.«
    Jetzt versucht er sich an einem Grinsen. Seine Grübchen sind noch da, er ist es also doch. Ich hebe meine Hand, um seine streng nach hinten gegelten Haare zu zerstrubbeln, doch er weicht ihr geduckt aus und geht mir voraus ins Esszimmer. Meine Finger bleiben in der Luft hängen. Simon will sich nicht von mir anfassen lassen? Wir haben früher sogar miteinander gebalgt, freundschaftlich natürlich. In jedem Herbst der vergangenen fünf Jahre musste ich an unsere Schlacht im Kastanienlaub zurückdenken, eine meiner schönsten Erinnerungen. Es war ein strahlend sonniger Oktobertag. Wir liefen durch den Domgarten bis zu den Kastanienalleen Richtung Rheinufer, wo die Straßenkehrer ganze Laubberge aufgeschichtet hatten. Simon hat sich kopfüber hineingestürzt, ich hinterher, selbst Maggie machte mit. Wie Kinder wirbelten wir die bunten Blätter durch die Luft und versuchten, uns gegenseitig darunter zu begraben. Als ich abends duschte, habe ich sogar in meiner Unterhose Laubreste gefunden. Wir hatten es uns händeweise in unsere Ausschnitte gestopft und vor lauter Übermut hatte ich Simon dabei in seinen hellen, kräftigen Hals gebissen. Man konnte die Abdrücke meiner Eckzähne eine Woche lang erkennen. Er hatte nur gelacht. Ich sehe ihn vor mir, als wäre es gestern gewesen; er lag auf dem Rücken im Laub und seine Augen leuchteten heller als der Himmel über uns. Es war einer der wenigen Tage in meinem Leben, an denen sie keine Rolle spielte. An denen sie mich nicht erreichen konnte. Wie in der Nacht mit Falk.
    Ich gehe ihm nach ins Esszimmer, wo sich alle schon einen Platz gesucht und für mich eine Nische zwischen Maggie und Simon frei gelassen haben. Jules hat aufgehört zu telefonieren und sich stattdessen den Laptop neben den Teller gestellt, Status: immer noch nicht ansprechbar. Im Vorbeilaufen sehe ich, dass er eine Exceltabelle geöffnet hat, in der er hektisch herumklickt.
    Die Pizza ist bereits kalt geworden und mein Bier warm. Ich esse ohne Lust, aber ich muss essen, ich habe den ganzen Tag noch nichts in den Bauch bekommen. Ein ungemütliches Schweigen breitet sich aus. Jeder starrt auf seinen Teller, als wären wir Fremde, die notgedrungen miteinander speisen müssen. Früher war es genau umgekehrt, wir

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