Linna singt
können, spätestens übermorgen würde sich die Nachricht, unsere Band probe, über den Rhein nach Speyer verbreitet haben. Doch eine Hütte in den Bergen? Vielleicht sogar ohne Handyempfang? Eine Hütte in den Bergen, fern von ihr, aber nah an Falk … Vielleicht kein Schicksal und auch keine Fügung, aber eine Gelegenheit, die ich nicht ignorieren kann. Plötzlich lösen sich meine Fäuste und die Wärme meines Bluts wandert prickelnd meine Arme hinauf in meine Brust. Ich werde mitfahren. Ich will es! Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich dabliebe. Und Falk wird die ganze Zeit in meiner Nähe sein. Real, nicht in der Fantasie. ’
Erst als ich den Briefkasten klappern höre, weil die Zeitung eingeworfen wird, und die Dunkelheit an Tiefe verliert, beuge ich mich vor, um die Fernbedienung vom Couchtisch zu ziehen und den DVD-Player einzuschalten – und erblicke mich. Höre mich. Ich bin überall, erfülle den gesamten Raum, das Haus, die schlafenden Seelen um mich herum. Ich erkenne die Aufnahme sofort, sie zeigt unser letztes Konzert, zusammen mit Falk. Jules hatte tagelang an einer ausgeklügelten Lightshow getüftelt, inspiriert von Sades Lovers Live -Tour. Ihr erster Song war auch unser erster Song des Abends gewesen. Cherish the Day …
In den ersten Sekunden sieht das Publikum nur Jules’ gigantischen Schatten am Schlagzeug, dahinter ein oranger Lichtkreis, der dunkler und wieder heller wird, wie eine pulsierende aufgehende Sonne; sobald die Gitarre einsetzt, Wechsel auf Falks überlebensgroße Silhouette, Falk in seiner unverwechselbaren Haltung und Gestik, wie er sich zum schwebenden Beat sacht in der Hüfte bewegt, hinter sich tiefes Blau, ein Ozean an Blau, und dann, eine Verheißung aus dem Nichts, meine Stimme. Mein Schatten. Ich. Da bin ich.
Mitten auf der Bühne, als wäre ich vom Himmel gefallen. Nicht wie Sade im eleganten Abendkleid, dazu hätten sie mich niemals überreden können. Ich trage die gleichen Sachen wie immer, Jeans, schwarzes Oberteil, schwarze Boots, die Haare zu einem langen Zopf gebunden, der mir seidig über den Rücken fällt … Ich sehe nichts von dem, was um mich herum geschieht, auch nicht die vielen Schatten meines Körpers, der sich weich im Beat wiegt, denn meine Lider sind niedergeschlagen, wie die von Falk. Trotzdem spüren wir uns mehr denn je, sind uns nahe. Auch die anderen spüre ich. Maggie, die gegen die Tränen kämpft, weil sie gerührt von sich selbst ist und von dem, was wir hier tun, Simon, der über beide Backen strahlt, als er endlich den Einsatz hat, durch den der Song erst perfekt wird und dessen hypnotischen Lauf ich tief in meinem Bauch fühle.
Hastig drücke ich auf den Volumenregler der Fernbedienung, die Musik ist zu laut, viel zu laut. Wie von fern höre ich das Jubeln des Publikums, doch mein Blick hängt an mir, an meiner Gestalt, meinen sanften Bewegungen, so zart … so zerbrechlich … Meine Hände habe ich erhoben, als wolle ich Gnade erflehen, »You show me how deep love can be … this is my prayer …«, meine Fingerkuppen streichen suchend über meine Wangen.
Für einen Moment hebe ich meine Lider, werfe einen Blick zu Falk, der ebenfalls aufschaut, wir lächeln uns zu, eine kurze, innige Verschwörung, selbst jetzt, auf dem Sessel im dunklen, kalten Wohnzimmer muss ich gemeinsam mit uns lächeln, obwohl ich weit zurück in die Vergangenheit sehe. Doch der Moment verfliegt, als wäre er ein Irrtum gewesen. Das Mädchen auf der Bühne verbirgt sich wieder in der Musik und ihrem Gesang, sucht Schutz in dem beständigen Vibrieren ihrer rauchigen, vollen Stimme.
Ich schaue diesem rätselhaften Wesen zu, das ich bin, und habe so starke Gänsehaut, dass ich mich unwillkürlich am ganzen Körper schüttele. Sie entsteht mitten in meinem Gehirn, zu jedem weiteren Ton entfacht sie sich neu, rieselt über die Schädelwände und überzieht meinen gesamten Körper.
Ich hatte sie auch damals, ich weiß es noch genau. Sie sprang von mir hinüber zu Maggie, Jules, Simon und Falk. Wir erschauerten vor uns selbst. Vor mir. Vor der Magie, die nur die Musik erschaffen kann. Linna singt.
IN HIGH PLACES
»Bitte geh an, bitte, du verdammte Dreckskiste … bitte …«
Noch einmal drehe ich den Zündschlüssel und trete auf das Gas, doch der Anlasser röchelt nur trocken vor sich hin. Der Funke springt nicht über. »Scheiße … okay, das war’s dann«, sage ich leise zu mir selbst. Durch die angelaufene Scheibe erkenne ich undeutlich, dass der
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