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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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paar kleine Tests, nur um sicherzugehen«, endete er schließlich, und ich atmete auf. Dann kam eine Sprechstundenhilfe und nahm Mama mit.
    Es dauerte eine Weile, ich ging ins Wartezimmer, und als sie schließlich wieder zurückkam und sich neben mich setzte, hatte sie vor Aufregung ganz rote Wangen.
    »Hast du gesehen: Er hat drei kleine Kinder. Tüchtig, tüchtig. Aber verheiratet ist er nicht!«, sagte sie. Sie meinte den Arzt.
    Wie schon erwähnt, registriert Mama Schilder nur, wenn sie ihr direkt vor die Augen gehalten werden. Und sie wüsste vermutlich nicht einmal zu sagen, in welcher Farbe ihr eigenes Wohnhaus gestrichen ist. Trotzdem ist diese Frau grundsätzlich über die Familienverhältnisse anderer Leute im Bilde. Sie hatte, ganz oben in einer Ecke des Regals im Behandlungszimmer des Neurologen, ein kleines, silbergerahmtes Foto gesehen.
    »Und woher willst du wissen, dass er nicht verheiratet ist?«
    »Er trägt doch keinen Ring! Hast du das gar nicht bemerkt?!«
    Nein. »Aber Mama, das ist doch kein Beweis – vielleicht hat er ihn einfach beim Händewaschen abgelegt. Ärzte müssen sich doch ständig die Hände waschen.«
    »Nein, der trägt nie einen Ring. Sonst hätte er ja einen weißen Abdruck am Ringfinger, so braun gebrannt, wie er ist.« Aha.
    Und wie war der Test?
    »Total blödsinnig«, sagte Mama. »Ich musste irgendwelche dämlichen Markierungen auf einem Zifferblatt machen, und solches Zeug. Das sind Dinge, die ich sowieso noch nie konnte. Was sagen die schon aus?!«
    »Und was noch?«
    »Ich glaube, die Sprechstundenhilfe war nicht sehr zufrieden mit mir«, sagte sie. »Ich sollte Tiere aufzählen. Alberner Quatsch!«
    »Welche Tiere denn?«
    »Heimische Tiere. Ich habe gesagt: Hund, Katze und Kuh. Und dann musste ich noch exotische Tiere nennen, da ist mir nichts eingefallen.«
    »Gar nichts?«
    »Doch, der Löwe«, gähnte Mama.
    »Sonst kein einziges exotisches Tier? Kein Affe, keine Schlange, kein Tiger, nichts?«
    »Ach ja, Affen und Tiger gibt es ja auch noch«, sagte Mama gelangweilt. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber daran hätte ich auch früher nicht gedacht, mit meinem Alter hat das gar nichts zu tun!« Vielleicht ist das nicht mal gelogen.
    Als wir wieder ins Behandlungszimmer des Arztes durften, schaute er mich jedenfalls nicht mehr an wie eine Erbschleicherin. Im Gegenteil: Er warf mir einen mitfühlenden und traurigen Blick zu.
    »Hm!«, machte er, blätterte in den Unterlagen und wandte sich dann ganz jovial an meine Mutter. »Ganz so wie mit vierzig ist es nicht mehr, nicht wahr?«
    »Ich bin ja auch schon achtzig, aber sonst komme ich hervorragend zurecht …«, sagte Mama.
    »Hm! Welches Jahr schreiben wir eigentlich gerade?«, fragte er.
    »2001!«, antwortete Ma wie aus der Pistole geschossen.
    »Hm? Das stimmt jetzt nicht so ganz …«
    »Ach ja, ach ja: 2004! Oder 2009?«
    Da blickten der Neurologe und ich uns ziemlich erschrocken an.
    »Also doch das Gedächtnis«, sagte er dann. »Gedächtnis« ist das Wort, mit dem man alte Leute erst mal konfrontiert, um nicht gleich den Ultra-Schocker in den Mund zu nehmen: Alzheimer-Demenz. Der Begriff, bei dem unweigerlich ein Film vor dem inneren Auge abläuft, von Senioren, die ihre Straßenschuhe in die Spülmaschine stellen und die Teller im WC waschen. Oder die sich abends in der Stadt verirren, weil sie nicht mehr nach Hause finden, und auf einer Gartenbank erfrieren. Oder eben den Balkon herunter… und all so was. Darum nahm der Neurologe das Wort, das mit A anfängt und mit …heimer aufhört, vorsorglich nicht in den Mund.
    »Es gibt Tabletten«, sagte er stattdessen, und klang fast schon fröhlich. »Die bringen das Gedächtnis nicht zurück, aber sie verlangsamen den Abbauprozess.«
    »Muss ich die denn nehmen?«, fragte Mama, wieder so frustriert, als hätte man ihr eröffnet, sie bekäme den Kopf abgeschnitten.
    »Wäre schon ziemlich wichtig«, sagte der Arzt. »Und erschrecken Sie nicht, wenn sie den Beipackzettel lesen. Was da steht, das hat nichts zu sagen.«
    » WAS ?«, fragte Mama.
    » NICHT ERSCHRECKEN , wenn Sie den BEIPACKZETTEL lesen. Das Medikament wirkt gegen viele verschiedene Krankheiten, die Sie gar nicht haben«, sagte er und blickte mich vielsagend an. »Also: NICHT ERSCHRECKEN !«
    » WAS HAT ER GESAGT ?«, brüllte Mama mir wieder entgegen, und der Arzt fiel ein:
    »Und lassen Sie sich mal ein Hörgerät machen. Das wäre ganz wichtig für Ihr Gedächtnis!«
    Da war er bei Mama aber

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