Lippenstift statt Treppenlift
dass ihr Captopril aufhörte, ihr Captopril zu sein. Alles klar? Nein?
Also mit anderen Worten: Mama drehte schon wieder völlig durch. Sie war besessen vom Pflegedienst, ihr gesamtes Dasein drehte sich nur noch darum.
Ab sieben Uhr früh ging der Wahnsinn los: Wenn um diese Zeit bei uns das Telefon läutete, bestand kein Zweifel, wer dran war: »Die Oma schon wieder!«, stöhnten die Kinder.
»Die Theresa ist nicht gekommen!«, gellte meine Mutter dann statt einer Begrüßung durch den Hörer. Theresa war eine der Schwestern vom Pflegedienst.
»Sie kommt schon noch!«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Sie hat ja noch locker drei Stunden Zeit!« Vereinbart war, dass die Pflegerinnen morgens zwischen sieben und zehn Uhr antreten sollten.
»Die Theresa kommt aber sonst immer kurz vor sieben!«, sagte Mama und klang vor Aufregung, als hätte sie gerade einen Hundert-Meter-Lauf absolviert. »Ich möchte gern, dass das so bleibt!«
»Das geht aber nicht immer«, erwiderte ich. »Das bekommt der Pflegedienst nicht hin. Dazu müsstest du schon Privatpfleger bezahlen.«
» WAAAS ?«
»Ach nichts, Mama!«, seufzte ich.
Schließlich, gegen zehn (und nach diversen aufgeregten Telefongesprächen), war klar: »Sie ist nicht gekommen!«
»Oh, Mist!«, sagte ich, wirklich erschrocken. »Dann haben die dich wirklich vergessen!« Das kam nämlich tatsächlich – ganz selten – mal vor.
»Unverschämt, oder?« Mama schäumte.
»Ja, das ist echt blöd. Ich rufe gleich an und beschwere mich«, sagte ich. »Einfach nicht zu kommen. Hätte ich von Theresa gar nicht gedacht.«
»Ja, sie ist krank geworden«, erklärte Mama.
»Ach so! Und woher weißt du das?«, fragte ich.
»Von Claudia«, sagte Mama.
»Also war doch eine Schwester da?«
»Ja, die Claudia, um 8 Uhr 30. Aber Theresa ist nicht gekommen!«
Schließlich malte Lisa, meine jüngere Schwester, große Zettel und hängte sie überall in Mamas Wohnung auf: Pflegedienst morgens: 7 Uhr bis 10 Uhr. Pflegedienst abends: 17 Uhr bis 20 Uhr. Mein Sohn sah die Schilder und malte noch ein paar, diesmal bunte, mit Flugzeugen und Tieren darauf. Wir stellten mehrere davon auf, und wir klebten welche mit Tesafilm an die Wände und an den Schrank. Aber es nützte nichts: Jedes Mal, wenn wir zu Besuch kamen, waren die Schilder weggeräumt. Es war auch gar nicht so, dass Mama nicht kapiert hätte, dass es für den Pflegedienst kaum machbar war, täglich zur selben Zeit zu erscheinen. Sie verstand das. Sie war aber dagegen.
»Sag ihnen, sie sollen morgens Punkt sieben und abends punkt fünf da sein. Das ist wichtig!«, forderte sie.
»Mama, ich hab’s dir doch schon tausendmal erklärt: Es geht eben nicht. Und es ist auch einerlei!«, erwiderte ich. Der Pflegedienst verabreichte ihr nämlich nur ihre Tabletten. Das war alles. Und es war ganz egal, ob sie die etwas früher oder etwas später am Morgen einnahm.
»Nein, das ist ganz schlecht. Die Tabletten morgens muss ich ganz früh nehmen. Un-be-dingt! Das haben mir schon zwei Ärzte gesagt.«
Solche Dinge behauptete sie immer.
»Soso«, sagte ich. »Welche zwei waren das denn?«
Mama tat, als hätte sie den spöttischen Unterton nicht bemerkt. »Sie sagen, dass ich meine Tabletten ganz zeitig schlucken muss. Mittags muss man dann ja andere Tabletten nehmen, das verträgt sich doch nicht!«
»Ach was! Welche anderen Tabletten musst du denn mittags nehmen?«, fragte ich. Keine, das war uns beiden klar: Mama bekam nur morgens und abends Medikamente.
Ebenso schlimm wie die unregelmäßigen Uhrzeiten fand sie die Tatsache, dass nie dieselben Pfleger und Pflegerinnen an den gleichen Tagen erschienen. Geradezu verzweifelt versuchte sie, ein System zu erkennen, aber da war keines. Die Schichten des Pflegepersonals variierten, und das fand sie schrecklich.
»Die Theresa kommt immer morgens von Dienstag bis Freitag, aber samstags, sonntags und montags kommt mal die Margareta und mal die Claudia. Aber plötzlich kommt die Claudia nicht mehr. Dafür kommt manchmal der Herr Kunz. Aber einmal, da kam er nicht, da kam dann doch die Claudia. Oder eine andere, die heißt Bernadette!« Sie seufzte tief. Es war schrecklich. Auch für uns, die wir das fast täglich zu hören bekamen.
»Mama, das ist wie im Krankenhaus: Da kommen doch auch immer verschiedene Schwestern. Aber dort ist dir das doch total egal!« Aber das war kein Trost, das war offensichtlich: Ma starrte mich nur an, als verstünde sie nicht ein einziges Wort von dem, was
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