Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
versuchen / und Geheimrat Oldenburg / für den Apfelkuchen.»
Ein brisantes Thema der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Koexistenz verschiedener Kulturen, hat im Medium des Films den stärksten Ausdruck gefunden: 2004 erhielt
Fatih Akin
(*1973) für «Gegen die Wand» den ‹Goldenen Bären› der Berlinale. Der Regisseur, in Deutschland geboren, Sohn türkischer Einwanderer, kennt die Reize und Probleme, die sich aus globalen Wanderungsbewegungen und dem Nebeneinander verschiedener Sprachen, Lebensformen undLeitüberzeugungen ergeben. Sie schlagen auch auf das Innenleben von Menschen durch, in denen verschiedene Anteile miteinander ringen.
Sibel Güner, die weibliche Protagonistin, lernt in einer Hamburger Klinik, in der sie nach einem Selbstmordversuch untergebracht ist, Cahit Tomruk kennen: «Findest Du meine Nase schön? Fass sie mal an. Die hat mir mein Bruder gebrochen, weil er mich beim Händchenhalten erwischt hat. Und jetzt fass mal meine Titten an. Hast Du schonmal so geile Titten gesehen? Ich will leben, Cahit. Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen. Verstehst Du mich?» Der extreme Hedonismus der jungen Türkin steht in starkem Kontrast zu ihrer Familie, die traditionelle Rollenvorstellungen vertritt, den Bildungsweg der Tochter für unerheblich hält und ihre Beziehungen zum anderen Geschlecht reglementieren will. So geht sie eine Scheinehe mit dem perspektivlosen, in einer heruntergekommenen Wohnung hausenden Cahit ein, aus der langsam Liebe wird.
Der Film zeichnet sich ästhetisch durch hohes Tempo, markanten Farbeinsatz, den Wechsel von Gewalt und Zärtlichkeit aus. Er überzeugt inhaltlich, weil er das Thema zum Zerreißen gespannter Identitäten nicht mit einem fertigen Konzept oder einer Lehre überzieht. Er vollbringt zudem eine erhebliche Differenzierungsleistung, weil er seine Hauptfiguren nicht statisch anlegt und weil er neben Sibel und ihrer Familie noch andere Lebensmodelle vorführt. So besitzt Sibel verschiedene Persönlichkeitsanteile, kann auch in die Rolle der traditionellen Türkin schlüpfen, für ‹ihren Mann› kochen und einem aufdringlichen Verehrer Schläge von ihm androhen. Sibels Cousine Selma arbeitet als Hotelmanagerin in Istanbul, agiert und kleidet sich dort nach westlichen Mustern, folgt einer Leistungsethik. Auch Cahit steht für einen eigenen Typus, der mit seinen türkischen Wurzeln fast vollständig gebrochen hat; als er Selma in Istanbul trifft, reden beide englisch miteinander.
Immer wieder wird die Unsicherheit deutlich, die in alle Lebensformen eingedrungen ist; selbstverständlich ist nichts mehr, auch die Traditionalisten werden herausgefordert, müssen Entscheidungentreffen. Die Religion spielt dabei keine entscheidende Rolle, der Islam ist aber als mentale Definitionsmacht wirksam. Der Film zeigt eine vielgestaltige Welt, in der neben die Gewalt und das immer wieder aufleuchtende Blut Gesten der selbstlosen Unterstützung treten. Ihm gelingt es, ein Gesellschaftsdrama mit einer Liebesgeschichte zu verbinden. Ein Mann findet wieder Lebenskraft durch eine Frau, ein Thema, das Akin genauso wichtig ist wie die Beobachtung von Sozialformen.
Damit gehört er in die Kunst seit den Neunzigerjahren, die Festlegungen auf allein relevante Fragestellungen, auf einen kritischen oder melancholischen Modus der Darstellung oder auf eine gehobene Sprache abgeworfen hat. Wer würde sich heute eine Prognose zutrauen, wie die Bücher aussehen, die wir in zehn Jahren lesen werden? Historisch wie ästhetisch ist es seit 1989 zu unvorhersehbaren Entwicklungen gekommen. Das manchmal beklagte «Anything goes» der Gegenwartskunst ist kein schlechter Ausgangspunkt für Experimente. Wenn sie anders aussehen als die am Beginn des 20. Jahrhunderts praktizierten, spricht das für die Lebendigkeit der Literatur; das ästhetische Feld ist weit geöffnet.
Literaturhinweise
Eine sehr viel umfangreichere Darstellung als hier möglich bietet der Band:
Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart.
2. Aufl., München 2006, der von Wilfried Barner gemeinsam mit anderen Autoren verfasst wurde; hingewiesen sei nur auf die von Manfred Durzak und Jürgen Schröder geschriebenen Kapitel. Eine weitere Überblicksdarstellung stammt von Ralf Schnell:
Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945.
2. Aufl., Stuttgart 2003. Vor allem zwei Probleme treten in Geschichten der jüngeren Literatur gelegentlich auf: eine
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