Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
aufgegeben.
Dieser Einzelne kann sich, so ebenfalls auf dem Album «Mittelpunkt der Welt», in der niedersächsischen Provinz wiederfinden, nachdem eine Liebesbeziehung zu Ende gegangen ist: «Ich bin jetzt immer da, wo du nicht bist / Und das ist immer Delmenhorst / Es ist schön, wenn’s nicht mehr wehtut / Und wo zu sein, wo du nie warst / / Hinter Huchting ist ein Graben / Der ist weder breit noch tief / Und dann kommt gleich Getränke Hoffmann / Sag Bescheid, wenn du mich liebst.» Hier kann das vorläufig einsame Ich ein Leben führen, das sich gegen äußere Vorgaben, gegen Kleidungsstile und Sprachregelungen richtet. Das Recht auf Abweichung und Besonderheit bleibt als letztes Gut.
Die Ironie, die diese Delmenhorst-Emphase durchzieht, wurde in den Neunzigerjahren zu einem verbreiteten Habitus. Sieging aus dem genannten schnellen Verschwinden von Gewissheiten hervor, aus dem Verlust bekannter (geographischer, sozialer, wirtschaftlicher und mentaler) Ordnungsmuster. Die daraus resultierende Unsicherheit ließ sich so bearbeiten, dass man Aussagen, wie es einen ironischen Sprechakt kennzeichnet, mit einem Vorbehalt versah: «Jaja wunderbar tolle rede mann», so antwortet ein Sprecher auf die bedeutungsschwere Aussage eines anderen im Song «Sie ist weg» von den
Fantastischen Vier,
der die Ironie in den Liebesdiskurs einführte. Musikalisch transportierte die Gruppe den amerikanischen Rap oder Hip-Hop ins Deutsche:
hey heute ist wieder einer der verdammten tage
die ich kaum ertrage und mich ständig selber frage
warum mich all diese gefühle plagen die ich nicht
kannte oder nur vom hörensagen denn bisher
rannte ich durch meine welt und war der könig
doch alles was mir gefällt ist mir jetzt zu wenig
alles was mich kickte von dem ich nie genug kriegte
lass ich lieber sein denn ich fühl mich allein
du fühlst dich nicht nur allein mann du bist es
drum lass das gejammer sein denn so ist es
nun mal auf dieser welt auch wenns dir nicht gefällt
schaust du deinen eigenen film und bist dein eigener held
Auffallend ist die intensive Arbeit mit End-, Binnen- und Anfangsreimen. Immer wieder treten unreine Reime auf, gerade dort, wo neues Wortmaterial – Jargonausdrücke und Anglizismen – reimfähig gemacht wird. Der gesamte Song ist auf zwei Stimmen verteilt. Ein erstes männliches Ich ist der einsam Klagende, eine zweite Stimme, die eines Freundes, kommentiert, kritisiert oder reagiert darauf mit Scherzen. Diese Ironie wirkt nicht zerstörerisch, sondern macht das ewige Thema der gescheiterten Liebe wieder sagbar. Sie stellt der Trauer das Spiel entgegen, dem Ernst den Witz gegenüber, sie ergänzt die Direktheit durch Reflexivität. Die Wahrheit des Liedes ergibt sich aus beiden Positionen gemeinsam, so wie die Sprecher am Ende ineinem Reim zusammenfinden: «Wo bist du hingekommen»–«ich sags dir sie ist weg und hat mich mitgenommen».
Eine besondere intellektuelle Strahlkraft besaß die Gruppe
Blumfeld,
die sich 2007 auflöste. Sie begann mit bekannten Mustern der Gesellschaftskritik («Die Diktatur der Angepassten»), neigte auch zu forciert geistreichen Posen («Mein System kennt keine Grenzen»), um auf den beiden letzten CDs «Jenseits von Jedem» und «Verbotene Früchte» ein ganz neues Terrain zu erkunden. Dabei verkehrten die ästhetischen Fronten sich endgültig: Wer jetzt experimentierte, betrieb nicht mehr Weltnegation, sondern erprobte Formen der Affirmation.
Im Song «Die Welt ist schön» sitzt ein Ich am Fluss, überlässt sich der Fülle der sinnlichen Eindrücke, glaubt nicht mehr, die Welt verstehen zu können, denkt an eine geliebte Person, um am Ende ins Metaphysische abzuschweifen: «Und Gott zieht durch die Galaxien / Er ist so einsam und allein / An manchen Tagen scheint er zu sagen: / Ich bin o.k. Die Welt ist schön, ich lebe gern.» Noch provokativer fiel das Lob eines «Apfelmanns» und seiner Produkte aus: «Er kommt mit seinen Früchten / und gibt uns neue Kraft». Der Witz des Liedes geht aus dem Kontrast von Inhalt und musikalischer Form hervor. Denn es handelt sich um einen glasklaren und präzise vorgetragenen Rock ’n’ Roll, in dessen Refrain sich der Vers findet: «Er ist der Apfelmann, Baby», und der eine Strophe enthält, die Apfelsorten aufzählt, um am Ende hinzuzufügen, welche davon sich am besten für Apfelkuchen eignet: «Jonagored, Novajo, / Elstar, Carmin, Rubi, / Winterprinz, Ontario, / Gravensteiner, Fuji, / Berlepsch, Melrose, Idared / kannst du mal
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