Little Bee
Mädchen, ein afrikanisches Mädchen. Das bin ich, und das werde ich bleiben, während die gestaltwandlerische Magie der Träume flüsternd im Dröhnen des Ozeans entschwindet.
Ich setzte mich auf, blinzelte und sah mich um. Neben mir am Strand saß eine weiße Frau in dem, was man Schatten nennt, und mir fiel ein, dass die weiße Frau Sarah hieß. Ich sah ihr Gesicht, wie sie mit großen Augen über den Strand blickte. Sie sah - ich überlegte, wie man ihren Gesichtsausdruck in eurer Sprache nennt - sie sah erschrocken aus.
»Oh mein Gott«, sagte Sarah. »Ich glaube, wir müssen hier weg.«
Ich lächelte schläfrig. Ja, ja, dachte ich. Wir müssen immer hier weg. Wo hier auch ist, es gibt immer einen guten Grund, wegzugeben. Das ist die Geschichte meines Lebens. Immer laufen, laufen, laufen, ohne einen einzigen Augenblick des Friedens. Wenn ich mich an meine Mutter und meinen Vater und meine große Schwester Nkiruka erinnere, denke ich manchmal, dass ich laufen werde, bis ich wieder mit den Toten vereint bin.
Sarah griff nach meiner Hand und versuchte mich hochzuziehen.
»Steh auf, Bee«, sagte sie. »Da kommen Soldaten. Über den Strand.«
Ich atmete den heißen, salzigen Geruch des Sandes ein. Ich seufzte. Ich schaute in die Richtung, in die Sarah blickte. Es waren sechs Soldaten. Sie waren noch weit entfernt. Die Luft über dem Sand war so heiß, dass sich die Beine der Männer in ein Flimmern auflösten, eine grüne Verwirrung von Farben, und es sah aus, als würden die Soldaten auf uns zuschweben, getragen von einer Wolke aus einer verzauberten Substanz, frei wie die Gedanken eines Mädchens, das an einem heißen Strand aus seinen Träumen erwacht. Ich kniff die Augen vor dem grellen Licht zusammen, das auf den Gewehrläufen der Soldaten blitzte. Die Gewehre waren deutlicher zu erkennen als die Männer, die sie trugen. Sie bildeten feste, gerade Linien, während die Männer daneben flimmerten. Auf diese Weise ritten die Waffen die Männer wie Maultiere, stolz und sonnenglänzend, wohl wissend, dass, wenn das Tier unter ihnen starb, sie einfach ein anderes besteigen würden. So ritt mir die Zukunft in meinem Land entgegen. Die Sonne schien auf ihre Gewehre und hämmerte auf meinen unbedeckten Kopf. Ich konnte nicht denken. Es war zu heiß und zu spät am Nachmittag.
»Warum sollten sie hier nach uns suchen, Sarah?«
»Es tut mir leid, Bee. Es waren sicher die Polizisten in Abuja. Ich dachte, ich hätte ihnen genug bezahlt, damit sie ein paar Tage lang ein Auge zudrücken. Aber irgendjemand muss uns verraten haben. Vermutlich haben sie uns in Sapele gesehen.«
Ich wusste, dass es stimmte, aber ich tat so, als wäre es nicht wahr. Das ist ein guter Trick. Man nennt ihn: eine Minute vom stillsten Teil des Spätnachmittags retten, während alle Zeit zu Ende geht.
»Vielleicht gehen die Soldaten ja nur am Meer spazieren, Sarah. Der Strand ist lang. Sie werden nicht wissen, wo wir sind.«
Sarah legte die Hand an meine Wange und drehte meinen Kopf, bis ich ihr in die Augen sah.
»Schau mich an«, sagte sie. »Schau nur, wie verdammt weiß ich bin. Siehst du irgendeine andere Frau am Strand, die diese Farbe hat?«
3»Und?«
»Sie suchen nach einem Mädchen, das mit einer weißen Frau und einem weißen Jungen zusammen ist. Geh einfach weg, Bee, okay? Geh zu den anderen Frauen dort drüben, und schau dich nicht um, bis die Soldaten weg sind. Falls sie mich und Charlie mitnehmen, mach dir keine Sorgen. Sie können uns nichts tun.«
Charlie klammerte sich an Sarahs Bein und schaute zu ihr hoch. »Mama, warum muss Little Bee weggehen?«
»Es ist nicht für lange, Batman. Nur bis die Soldaten fort sind.«
Charlie stemmte die Hände in die Hüften. »Ich will nicht, dass Little Bee weggeht«, sagte er.
»Sie muss sich verstecken, Liebling. Nur für ein paar Minuten.«
»Wieso ?«
Sarah schaute aufs Meer, und ihr Gesichtsausdruck war das Traurigste, was ich je gesehen hatte. Sie antwortete Charlie, meinte aber in Wirklichkeit mich.
»Weil wir noch immer nicht genug getan haben, um sie zu retten, Charlie. Ich dachte, das hätten wir, aber wir müssen mehr tun. Und wir werden mehr tun, Liebling. Wir werden Little Bee niemals aufgeben. Denn sie gehört jetzt zu unserer Familie. Und bis sie nicht glücklich und in Sicherheit ist, werden wir es auch nicht sein.«
Charlie klammerte sich an mein Bein. »Ich will mitgehen«, sagte er.
Sarah schüttelte den Kopf. »Du musst hierbleiben und dich um mich kümmern,
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