Little Miss Undercover - Ein Familienroman
Aufsätze höchstpersönlich in die Briefkästen der Lehrer.
Das Schlimmste war aber, dass David es wusste . Er wusste, dass ich mit meinem miesen Verhalten – bis zu einem gewissen Grad – auf seine Vollkommenheit reagierte. Ihm war klar, dass ich seine Schuld war, und er empfand deswegen aufrichtige Reue. Hin und wieder fragten mich meine Eltern, warum ich mich so aufführte. Und ich sagte es ihnen: um ein Gleichgewicht zu erzeugen. Hätte man David und mich addiert und dann durch zwei geteilt, wären unterm Strich zwei überaus normale Kinder herausgekommen. Später sollte Rae alles wieder aus dem Gleichgewicht bringen, aber davon erzähle ich noch.
C LAY S TREET N R . 1799
Der Familiensitz der Spellmans befindet sich in der Clay Street Nr. 1799, am Rand von Nob Hill. Einen Kilometer südlich stößt man auf den Tenderloin – den heterosexuellen Rotlichtbezirk von San Francisco. In nördlicher Richtung landet man nach einer Weile unweigerlich in einer der vielen Touristenfallen, Lombard Street oder Fisherman’s Wharf oder – wenn man wirklich Pech hat – Marina.
Spellman Investigations befindet sich praktischerweise ebenfalls in der Clay Street Nr. 1799. (Mein Vater witzelt oft, dass er bloß die Treppe hinunterpendeln muss.) Das Haus ist ein imposanter, viergeschossiger viktorianischer Bau mit blauweißem Anstrich. Meine Eltern hätten sich ein solches Haus nie leisten können, wäre es nicht über drei Spellman-Generationen weitervererbt worden. Der Wert dieser Immobilie beläuft sich inzwischen auf fast zwei Millionen Dollar, so dass meine Eltern mindestens vier Mal im Jahr verkünden, sie wollten das Haus verkaufen. Doch das sind nichts als leere Drohungen. Lieber nehmen sie alte Möbel, abblätternde Farbe und ökonomische Unsicherheit in Kauf, als sich Fahrten nach Europa, Rentenanlagen und ein Heim in den Vororten zu gönnen.
Am Eingang des Hauses/der Firma meiner Familie sieht man vier Briefkästen, die von links nach rechts auf folgende Namen lauten: Spellman, Spellman Investigations (bisher haben wir nur einen einzigen Briefträger erlebt, der diese Unterscheidung konsequent einhielt), Marcus Godfrey (der ewige Deckname meines Vaters) und Grayson Consulting (eine Scheinfirma, die unser Unternehmen für leichtere Fälle verwendet).
Rund um die Bay Area verteilen sich noch zwei bis drei Briefkästen, die das Unternehmen bei höchster Geheimhaltungsstufe nutzt.
Im Haus sieht man zunächst eine Wendeltreppe, die in den ersten Stock hinaufführt. Dort sind die drei Schlafzimmer.Rechts von der Treppe befindet sich eine Tür mit dem Firmenschild Spellman Investigations . Sie ist außerhalb der Geschäftszeiten stets abgeschlossen. Links von der Treppe gelangt man ins Wohnzimmer. Früher bestimmte eine Couch mit fadenscheinigem Zebrabezug die Mitte des Raums. Jetzt steht an dieser Stelle ein schlichtes braunes Ledersofa. Um das Sofa stehen Möbel aus Mahagoni – jedes ein antikes Stück, jedoch so heruntergekommen, dass der Wert geschwunden ist. In den letzten dreißig Jahren gab es, abgesehen vom Sofa, nur eine einzige Veränderung: Der Zenit-Fernseher mit Holzverschalung (ca. 1980) wurde durch einen 27-Zoll-Flachbildschirm ersetzt, den mein Onkel nach einer äußerst seltenen Glückssträhne auf der Pferderennbahn erwarb.
Hinter dem Wohnzimmer liegt die Küche, die sich in ein bescheidenes Esszimmer öffnet, in dem noch mehr heruntergekommene Antiquitäten herumstehen. Solange ich hier unten bin, sollte ich noch die Tür zu Spellman Investigations aufschließen.
Das Büro meiner Familie befindet sich im Erdgeschoss an einem Ort, den man in jedem anderen Haushalt als Abstellraum nutzen würde. Vier Lehrerschreibtische vom Trödler (die Sorte aus beigebraunem Metall) bilden in der Mitte ein regelmäßiges Rechteck. Vor dreißig Jahren stand der einzige Computer – von IBM – auf dem Arbeitsplatz meines Vaters. Inzwischen gibt es auf jedem Tisch einen PC, im Schrank liegt zusätzlich ein Notebook, das gemeinschaftlich genutzt wird. Ein halbes Dutzend Aktenschränke in verschiedenen Farben (ebenfalls vom Trödler) verteilen sich an den vier Wänden. Das war’s auch schon an Einrichtung, abgesehen vom riesigen Aktenschredder und staubigen Rollläden. Manchmal stapeln sich bis zu einem halben Meter hohe Aktenberge auf jedem Schreibtisch. Auf dem Boden liegen Fetzen aus dem Schredder. Das Zimmer riecht nach Muff und billigem Kaffee. Am anderen Ende des Raums führt eine Tür in den Keller, wo
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