Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Vorwort
Der alte Kaiser kann nicht schlafen. Das Rheuma plagt ihn; mit dem Schreibenlernen will es nicht recht vorankommen. Dann muss er auch noch vom Fenster aus sehen, wie seine Lieblingstochter Emma, die er doch an den Kronprinzen von Byzanz hatte verheiraten wollen, einen jungen Mann durch den Schnee trägt, damit dieser keine Spuren hinterlässt. Karl der Große lässt die beiden abfangen. Schon sieht Emmas Geliebter, der Schreiber Eginhard, das Verbannungsurteil nahe. Doch dann zeigt sich der Kaiser gnädig und erlaubt, dass die beiden heiraten.
Eine schöne kleine Geschichte – so schön, dass der große Moralist Wilhelm Busch sie in herrlich frechen Bildern eingefangen hat: Da behält Karl selbst im Bett die gewaltige Krone auf dem Kopf, schellt im Schlafrock nach dem Hausdiener, der ihn frottieren muss, ein Wachmann nimmt Eginhard mit der Hellebarde am Kragen, und beim Schlusstableau mit kniendem Liebespaar vergießen alle dicke Tränen der Rührung.
Historisch wahr ist an der ergreifenden Story nichts. Aber Notker der Stammler, der sich die Anekdote um das Jahr 900 ausdachte – natürlich ohne Schlafrock und Hellebarde –, hat darin prototypisch festgehalten, was über Jahrhunderte von einem guten Herrscher erwartet wurde: Strenge und Milde, Befehlsgewalt und doch Einfühlsamkeit. Sein Karl ist ein menschlicher Regent, der sich Sorgen macht, Schmerzen hat, wütend werden kann, aber am liebsten gnädig ist; eine Vaterfigur fürs Herz.
War er das wirklich, der Frankenkönig und Ur-Kaiser des Abendlandes? Darf man Karl, den Einiger Mitteleuropas, als Visionär der Politik wie der Kultur feiern? Oder wäre es nicht eher angemessen, ihn als Haudegen zu porträtieren, der gnadenlos mit dem Schwert missionieren ließ, Verwandte beiseite schaffte, Herzogtümer vereinnahmte, schlau die Kirchenmacht nutzte und so mit Glück und Zähigkeit bis nach Rom gelangte?
Wichtig ist wohl vor allem, dass man von ihm erzählen konnte. Schon zu seinen Lebzeiten war er ein Mythos geworden; dem Hochmittelalter galt er als legendäre, ja heilige Gründerfigur, und wenn irgendwann seither ein wie auch immer geeintes Europa auftauchte, versuchte es sich auf ihn zu berufen. Gerade das aber macht ihn erst recht zu einem Rätsel.
Schicht um Schicht haben Historiker Verklärungen und Ideologien abzutragen versucht. Selbst Einhards ehrwürdige Biografie, Hauptquelle für den Menschen Karl wie für seine Zeit, ist dabei als absichtsvolles Konstrukt nach antiken Vorbildern enttarnt worden. Von der Gestalt, an deren Todestag vor 1200 Jahren Ende Januar 2014 mit musealer Akribie und Festreden erinnert wird, sind nur Umrisse greifbar: Verordnungen und Urkunden, Annalen-Notizen und Widmungsverse, die unzweifelhaft aus Karls Regierungszeit stammen, dazu ein paar erstaunliche Bauwerke wie der Aachener Dom.
Wenn dieses Buch es dennoch wagt, ein Porträt des wichtigsten frühmittelalterlichen Herrschers und seiner Epoche zu zeichnen, kann das ehrlicherweise nur in Mosaikform geschehen. Bäuerliche Fron oder Hofschule, die Pionierarbeit angelsächsischer Missionare oder die Kontakte nach Ostrom, jedes Indiz ist wertvoll. In Geschichten und Porträts, Nahaufnahmen und Dokumenten wird so eine Figur eingekreist, die bei aller Überlebensgröße selbst für heutige Experten mysteriös bleibt und die man darum laut der berechtigten Mahnung des Frankfurter Historikers und Karl-Biografen Johannes Fried lieber »nicht noch zum Symbol« aufbauen sollte.
Mit unvoreingenommenem Interesse haben SPIEGEL -Autoren geprüft, was an alten Schulbuchweisheiten – etwa Karl Martells Sieg über die Sarazenen bei Tours und Poitiers – wirklich dran ist. Sie haben sich durch das blutige Gewirr fränkischer Erbstreitigkeiten gearbeitet oder das erstaunlich komplexe Netzwerk der kaiserlichen Pfalzen erkundet. Ausführlich kommt der wissenschaftlich-kulturelle Elan zur Sprache, den Karl durch die Vereinheitlichung elementarer Dinge wie Kalender, Liturgie und Bibeltext in Gang brachte. Steffen Patzold, Historiker in Tübingen, demonstriert, wie viele Fragezeichen selbst die bekannteste Karl-Szene, die Krönung des Jahres 800 , bei Fachleuten hinterlässt. Ein ganzes Kapitel endlich schildert, wie Söhne und Enkel die fragile Einheit zerfallen ließen – und wie sich gerade daraus entscheidende Strukturen des heutigen nationalstaatlichen Europas herausbildeten.
Eine Spurensuche also ist dieses Buch geworden, ein Panorama aus Aspekten und Durchblicken. Es will
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