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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Träume Wahrheit werden lassen und Bundschaft mit den Zigeunern geschlossen, weil sie wusste, dass Rudolfos Klinge auf irgendeine Weise den Weg in ihre neue Heimat beschützen würde. Das allein wäre schon genug Veränderung gewesen.
    Aber sie war in die Träume eines anderen gefallen und hatte sich Angesicht zu Angesicht dem verheißenen Heimatsucher gegenübergefunden – Nebios ben Hebda, dem verwaisten Androfranziner. Und mehr als das: Sie hatte den unbeholfenen Jungen, der gesehen hatte, wie Windwir unter dem Bannspruch Xhum Y’Zirs gefallen war, wirklich kennengelernt, und sie glaubte, dass sie ihn vielleicht lieben könnte.
    Also war sie um eines Jungen willen hergekommen, hatte ihn getroffen, und die Begegnung hatte sie zutiefst verstört. Die Gefühle, die er in ihr aufwühlte, waren zu groß, als dass ihr Herz sie fassen könnte, und sie waren von einer Schärfe, mit der man ein Stück ihrer Seele abtrennen könnte, wenn sie es zuließ.
    Vielleicht ist es schon geschehen? Sie war sich nicht sicher. Ihre
Mutter hatte nicht lange genug gelebt, um mit ihrer Tochter über solche Dinge zu sprechen. Hanric war derjenige, der einem Vater am nächsten kam, doch er ließ sie diese Dinge selbst bei den Frauen ihres Haushalts herausfinden. Winters hatte jedoch nie nachgefragt. Es hatte sich unpassend angefühlt.
    Dennoch konnte sie seit jenem Tag am Rande der Verheerung nicht anders, als sich Nebs Mund auf dem ihren vorzustellen und seine Hände, die über ihre Hüften und Schultern strichen. Selbst jetzt überlief sie dabei ein leichter Schauer. Nach jenem ersten Kuss hatten sich ihre Träume gewandelt. Sie träumte von der neuen Heimat, die Neb finden würde, davon, mit verschlungenen Gliedern nackt auf einem mit Seide bezogenen Bett zu liegen und hinauf in eine riesige, braun-blaue Welt zu starren, die den gesamten Himmel ausfüllte. Um sie herum sangen Vögel. Wasser rauschte in der Nähe. Hin und wieder küssten sie sich in diesen Träumen, aber der Großteil ihrer Träume bestand aus Lichtblitzen, verdrehten Bildern einer Welt aus riesigen Weiten voller Sand und Glas und Gestrüpp.
    Dass sie ihn heute gesehen und geküsst hatte, löste noch mächtigere Gefühle aus als diese Träume, und ein Teil von ihr hoffte, dass er sie heute Nacht, nachdem er von dem Fest genug hatte, noch einmal aufsuchen und wieder küssen würde.
    Trotz des kalten Windes auf ihren Wangen wurde sie bei dem Gedanken rot.
    »Du bist ein dummes Mädchen«, sagte sie zu sich selbst und der Nachtluft um sie herum. »Alles andere als eine Königin.«
    Sie wandte sich um, wollte sich wieder in die Residenz begeben, als sie ein fernes, lauter werdendes Geräusch hörte, das mit einer leichten Brise näher kam. Sie spürte, wie ihr Magen rebellierte, ihr Mund stand offen, die Lippen verzogen. Ehe sie sich wieder fangen konnte, gaben ihre Beine nach, und sie fiel auf den von Schnee verkrusteten Boden des Balkons. Winters spürte, wie ihr Körper sich zusammenzog und ihre Augen blinzelten,
während die Worte über sie hinweg und aus ihrem Mund strömten, ein Ansturm der Zungenrede. Jedes Mal bäumte sie sich auf und sträubte sich zuckend dagegen; weshalb, wusste sie nicht.
    Dem Himmel muss man sich um jeden Preis widersetzen. Doch schließlich gab sie sich der Ekstase und dem Redefluss hin. Die Wörter sprudelten heraus und blähten sich auf, während sie spürte, wie sie die Augen aufriss. Plötzlich wurde die Verzückung glühend heiß, ein jähes Eindringen, das einen bohrenden Schmerz hinterließ. Sie nahm das WORT aus der Sprache des Himmels und sprach es aus. Ein säubernder Wind aus Blut. Eine tilgende Klinge aus kaltem Eisen gegen den Makel am Rebstock.
    Der Anfall ging vorüber, und sie setzte sich langsam auf. Inzwischen war der Lärm lauter geworden und näher gekommen, breitete sich vom Wald in die Stadt aus, über die Tore der Residenz hinweg, und sie begriff, was er bedeutete. Das flaue Gefühl in ihrem Magen war inzwischen ein heißer, schmerzender Klumpen.
    Die Siebte Waldresidenz war in die dritte Warnstufe versetzt.
    Vlad Li Tam
    Vlad Li Tam stand mit bloßen Füßen auf dem über Nacht ausgekühlten Sand und beobachtete, wie die Sonne den Himmel im Morgengrauen violett färbte. Die letzten Sterne suchten das Weite, und die Vögel, die das Kommen des nächsten Tags ankündigten, stellten sich mit ihrer Lautstärke auf das heller werdende Licht ein. Die Luft war schwer und feucht und warm, und eine Brise strich über seine nackte

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