Das Geheimnis der Maori-Frau (German Edition)
Prolog
Reglos hockte der Mann in Schwarz im Schatten des Ratabaumes. Die Luft um ihn herum war erfüllt von den Geräuschen der Nacht – dem sanften Rauschen des Windes und dem Gesang der Grillen –, doch er nahm sie gar nicht wahr. Sein Blick war starr auf das hell erleuchtete Fenster im oberen Stockwerk des Farmhauses gerichtet, hinter dem sich das Elternschlafzimmer befand. Durch den Vorhang konnte er die Bewegungen des Ehepaares verfolgen, das sich anschickte, nach einem langen, anstrengenden Tag zu Bett zu gehen.
Dann – endlich – wurde es dunkel.
Der Mann in Schwarz spürte, wie eine Welle der Erregung ihn durchfuhr. Doch er musste noch ein wenig abwarten. Er schloss die Augen und maß die Zeit, indem er die Schläge seines Herzens zählte.
Eins … zwei … drei … Als er bei neunzig angelangt war, trat er aus seinem Versteck und ging zielstrebig auf das kleinere Gebäude zu, das etwas abseits vom Wohnhaus stand. Die weit über den Kopf gezogene Kapuze seines Sweatshirts verbarg sein Gesicht vor dem Mondlicht. Nur seine Augen glänzten schwach, wie schwarze Murmeln in einem Meer aus Finsternis.
Leise schwappte die Flüssigkeit in dem Kanister, den er bei sich trug, bei jedem Schritt gegen die Wände des Behälters. Er glaubte zu spüren, wie sich die Umrisse des Zippo-Feuerzeugs in seiner Hosentasche durch den Stoff der schwarzen Jeans brannten.
Jetzt war es bald so weit. Er konnte es kaum noch abwarten.
Kurz darauf erreichte er den Schuppen, in dem, wie er wusste, Viehfutter gelagert wurde. Er stellte den Kanister ab und schraubte den Deckel auf. Sofort stieg ihm der beißende Gestank von Reinigungsbenzin in die Nase, der auf ihn eine geradezu berauschende Wirkung ausübte. Einen Augenblick lang genoss er das leichte Schwindelgefühl, das sich in seinem Kopf ausbreitete, dann nahm er den Kanister auf und fing an, die Flüssigkeit rund um das Gebäude zu verteilen.
Als er damit fertig war, stand er einen Moment lang einfach nur andächtig da. Der Nervenkitzel glich dem, was man empfindet, wenn man am Rand eines Hochhausdaches steht und in den gähnenden Abgrund blickt. Denn dabei geht es nicht um Angst, sondern vielmehr um Macht.
Die Macht des freien Willens.
Noch einmal holte der Mann in Schwarz tief Luft, dann zückte er das Zippo, ließ es aufschnappen und drehte das Zündrädchen.
Mit einem leisen Fauchen wurde die Flamme entfacht.
Macht.
Ein freudiges Zittern durchlief seinen Körper. Er holte aus und warf das Feuerzeug weit von sich. Es beschrieb einen hohen Bogen, ehe es mitten in einer Pfütze aus Benzin landete, das mit einem wütenden Brüllen entflammte.
Innerhalb von Sekunden griff das Feuer um sich, und der Schuppen brannte lichterloh. Nur kurz durfte der Mann in Schwarz den Anblick seines Werkes genießen. Das Wiehern der Pferde im benachbarten Stall und das Tosen der Flammen würde die Bewohner des Farmhauses schon bald wecken.
Er wandte sich ab und ging. Kurz darauf war er im Schutz der Nacht verschwunden.
1. TEIL
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WELCOME TO AORAKAU VALLEY – HAERE MAI!
Du bist eingeladen, deinen Ärger, deine Unzufriedenheit und deine Fragen mitzubringen. Aber wenn du gehst, nimm Frieden, Gelassenheit und Freundschaft mit.
Shelly Makepeace runzelte die Stirn, als sie den Text im Vorbeifahren las. Dass diese bekannte Maoriweisheit ausgerechnet auf dem Schild stand, das die Besucher von Aorakau Valley begrüßen sollte, erschien ihr wie eine spöttische Fügung des Schicksals. Denn wenn es zwei Worte gab, die ihr Dasein im Augenblick wirklich treffend charakterisierten, dann waren es Ärger und Unzufriedenheit. Und auch an Fragen mangelte es ihr nicht.
Quälende, bohrende Fragen darüber, wie es weitergehen sollte. Ob sie wirklich das Richtige tat und warum ausgerechnet ihr Leben von einem Tag auf den anderen in solche Turbulenzen hatte geraten müssen.
Seufzend strich sie sich eine widerspenstige Strähne ihres rotblonden Haares zurück hinters Ohr. Wenn sie sich bloß nicht so entsetzlich müde und erschöpft fühlen würde … Während des fast zwanzigstündigen Flugs von Los Angeles nach Christchurch war sie zwar hin und wieder kurz eingenickt, allerdings ohne wirklich erholsamen Schlaf zu finden. Sie hasste einfach die Vorstellung, sich Tausende von Metern über dem Erdboden zu befinden. Allein der Gedanke daran verhinderte, dass sie sich entspannen konnte, und sie warfroh gewesen, nach der Landung endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Doch da
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