Lockruf Der Leidenschaft
der kleinen Schlafkammer, die von dem winzigen Treppenabsatz abging. »Hier herein, wenn es Euch recht ist, Sir«, gurrte sie mit melodischer Stimme und machte einen Knicks, als führe sie Nicholas in irgendein Luxusgemach. Er trat an ihr vorbei in einen armseligen, spärlich möblierten Raum, wo ein winziges Kaminfeuer missmutig vor sich hin schwelte und der Wind durch die Ritzen des schlecht schließenden Flügelfensters pfiff. Der Überwurf auf dem Bett war zerknüllt und fleckig, und irgendetwas huschte unter eine wackelig aussehende Kommode, die an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Nicholas war schrecklich schwindlig, und ihm wurde schlagartig klar, dass er sich nicht in der Lage sah, das hinter sich zu bringen, was ihm bevorstand - wie begehrenswert seine Gespielin auch immer sein mochte. Er griff in seine Tasche, um seine Geldbörse hervorzuziehen. Das Mädchen hatte schließlich Anspruch auf Bezahlung.
Doch mit einem Mal hielt er mitten in der Bewegung inne, und sein gesamter Körper verharrte in Reglosigkeit, während das Mädchen sachlich und scheinbar unbeteiligt das Oberteil seines Kleides aufzuschnüren begann. Mit einer vollkommen natürlich anmutenden Geste knöpfte Polly das Hemd auf, das sie unter dem Kleid trug, und entblößte die vollen, elfenbeinweiß schimmernden Rundungen ihrer Brüste, die von rosigen Spitzen gekrönt waren und stolz aufrecht standen. Nicholas ließ sich auf die Matratze aus Flockwolle auf dem schmalen Bett sinken, wobei die Bettfedern quietschend unter seinem Gewicht protestierten. Seine Augenlider waren ungeheuer schwer, dennoch konnte er einfach nicht den Blick von der Gestalt losreißen, als ihr geschmackloses rotes Kleid auf den Fußboden fiel, dicht gefolgt von ihrem verschmutzten Unterrock.
Polly stand stocksteif da und fragte sich verzweifelt, was sie als Nächstes tun sollte. Sie war noch nie zuvor gezwungen gewesen, auch noch ihr Hemd auszuziehen. Bisher waren ihre Opfer stets schon bewusstlos gewesen, bevor sie ihren Unterrock abgestreift hatte, doch dieser Gimpel hier blieb wach und wartete ganz offensichtlich darauf, dass sie auch noch die letzte Hülle fallen ließ. Besorgt forschte Polly in seinen Augen nach jener typischen Trübung der Pupillen, die darauf schließen ließ, dass der Trank demnächst Wirkung zeigte. Doch seine Augen waren noch immer klar und fest auf sie gerichtet. Damit blieb ihr also keine andere Wahl, als sich vollständig zu entkleiden. Sie hob die Hände, um das offene Unterhemd von ihren Schultern zu streifen. Nicholas bemerkte, wie er unwillkürlich nach Atem rang, als sie das dünne Hemdchen langsam abstreifte, um vollkommen nackt in der kalten, schmutzigen Schlafkammer zu stehen. Der Gegensatz zwischen dieser höchst schäbigen Umgebung und jenem makellosen Körper, der fast opalartig im flackernden Licht der Öllampe schimmerte, war einfach unbeschreiblich.
»Komm her.« Die leise Aufforderung klang in der angespannten Stille geradezu schrill. Polly schluckte und trat zögernd Richtung Bett. Plötzlich begann sich der Raum mit Schwindel erregender Geschwindigkeit um Nicholas zu drehen, und die schreckliche Erkenntnis, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten, durchfuhr ihn wie ein Blitz. Denn während sich dieses atemberaubende Geschöpf ihm langsam näherte, schien es plötzlich vor seinen Augen zu flimmern und zu verblassen. »In Gottes Namen!«, rief er aus und rieb sich die Augen, in der vergeblichen Hoffnung, den trüben Schleier zerreißen und wieder klar sehen zu können. »Was hast du mit mir gemacht?«
Zu Pollys Erleichterung und Bestürzung zugleich fiel der Gentleman auf die Bettstatt zurück und rührte sich nicht mehr. Vorsichtig trat sie an das Bett heran und blickte auf die reglos daliegende Gestalt hinunter. Ihre Aufgabe als Lockvogel war erfüllt. Sie würde sich wieder anziehen, in den Schankraum zurückkehren und den Rest Josh überlassen. Was würden er und seine Handlanger mit dem Gimpel wohl anstellen? Sie würden ihn doch nicht umbringen, oder? Doch ihr war klar, dass genau das passieren würde. Denn wenn sie ihn am Leben ließen, hetzte er ihnen die Schildwache auf den Hals, und dann würden sie alle am Galgen enden - einschließlich sie, Polly. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe, als ihr das Gebet des Weisen in den Sinn kam: Verschone mich mit Armut, damit ich nicht stehlen muss. Aber sie hatte in dieser Welt mangelnder Gerechtigkeit nun einmal das Los der Armut gezogen, und sich der
Weitere Kostenlose Bücher