Löffelchenliebe (German Edition)
und spähe durch ein faustgroßes Loch in der Rückwand, das sich praktischerweise genau in Augenhöhe befindet, in meiner Augenhöhe, also ziemlich weit unten, über die Schulter eines Posaunisten hinweg und sehe: ihn. Hach, das erfreut mein flatteriges Herz. Er steht noch immer am Kunstrasen neben dem Stand von Herrn Dahl, gerade erzählt er etwas. Und er lacht. Wie hübsch er ist, volle Lippen, eine ziemlich große Nase (ich liebe große Nasen), ein scharf geschnittenes Profil, und … jung ! Der ist doch höchstens – vor meinen Augen fuhrwerkt der Posaunist mit seinem Gerät herum, könnten Sie das bitte mal lassen, ja ? –, der ist höchstens zweiundzwanzig. Er könnte mein Sohn sein !
Einen Moment lang bin ich schockiert. Zugegeben, nur einen sehr winzigen Moment. Eigentlich bin ich ein großer Freund davon, die Dramatik angesichts eines solch schockierenden Verdachts vollends auszukosten. Nur jetzt gerade bin ich viel zu aufgeregt und vor allem viel zu angetan, und wahrscheinlich habe ich auch zu viel getrunken, um schockiert zu sein.
Und was sind schon dreizehn Jahre ? ! Viel wichtiger, also viel, viel wichtiger ist doch …
»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein ?«
Ich fahre herum. Meine Nase prallt mit einer Männerbrust im Anzug zusammen, meine Augen bohren sich in das Manfred-Dahl-Namensschild. Es ist plötzlich sehr heiß hier.
»Frau Brix.«
»Herr Dahl.«
»Was tun Sie hier ?« Eine berechtigte Frage.
»Erst sagen Sie, Sie hätten einen dringenden Termin, und jetzt liegen Sie hier in aller Ruhe auf der Lauer ?«
Er bückt sich und späht durch das Guckloch. Dann guckt er mich an. Mir fällt nichts ein. So rasant kann es gehen, die Wandlung der Journalistin Anna B., erst zum Teenager, dann zum Kleinkind. Ich mache einen kleinen Hopser. Herr Dahl schüttelt den Kopf und geht.
Seltsamerweise fühle ich mich gar nicht schlecht. Im Gegenteil, in meinem Kopf flattern aufgeputschte Gedanken umher wie kleine Vögel, sie zwitschern mir zu: »Ergreife deine Chance ! Los, ergreife deine Chance !«
Das werde ich.
Ich verlasse meinen Aussichtspunkt und fliege durch die Halle, umschiffe mehrere weiße Styroporschafe und einen Pfeife rauchenden Pappschäfer. Mein Ziel fest im Blick renne ich gegen einen mittelgroßen Spanplattenbullen, der unerhörterweise im Weg steht, in meinem Weg ! Als ich ihn ramme, gibt das Ding nach und – oh, das war so nicht geplant – kracht in einen Stehtisch. Ich sehe Teller, die wie Frisbeescheiben durch die Halle wirbeln, Menschen, die vor fliegenden Garnelenspießen zurückweichen und dabei eine Gasse bilden, durch die ich sprinte wie Moses durchs geteilte Meer. Dann setze ich hechelnd einen Fuß auf das Kunstrasenpodest und drehe mich um. Hinter mir eine Schneise der Zerstörung und überall Augenpaare, sehr viele Augenpaare, die auf mich gerichtet sind. Guten Tag allerseits. Ich nicke freundlich in die Runde – und wünsche mir eine Bettdecke, unter der ich mich verkriechen kann.
Ich würde ja gerne sagen, der Dalai Lama hat mich geprägt, meinetwegen auch irgendein anderer Guru, Swami-schieß-mich-tot, Hauptsache jemand, der einigermaßen besonnen und weitsichtig handelt. Jesus wäre auch eine Top-Wahl.Aber leider war es Otto.
Schon als Kind fand ich Otto toll. Mittlerweile will ich ihn gar nicht mehr toll finden, wirklich nicht, aber ich muss nur zufällig in einen seiner alten Sketche reinzappen, schon fange ich hysterisch an zu lachen, als würde mich jemand durchkitzeln. In einem seiner Filme, ich glaube, es ist der zweite, sitzt Otto neben einem knutschenden Paar im Bus und imitiert mit vorgewölbten Lippen die Kussbewegungen des Mannes. Als das Paar Otto irgendwann bemerkt und entgeistert anstarrt, hört er nicht etwa auf mit seiner Knutschimitation, oh nein, er behält seine Lippen in Kussform und trompetet: »Öhm, öch muss hör aussteigen.«
Und genau das ist die einzige Reaktion, die mir in Momenten der Peinlichkeit zur Verfügung steht: so zu tun, als ob ich gar nicht anders könnte oder mich ganz bewusst und mit voller Absicht so behämmert verhalten hätte. Ungefähr so, wie bei dem Strumpfhosen-Desaster mit Klaus 2 – das ich hiermit ein für alle Mal aus meinem Gedächtnis verbanne. Ich lache nicht verlegen, ich schüttle nicht den Kopf über mich selbst, oh nein: Ich verleihe dem Peinlichen einen Sinn. Auf dass meine Umwelt den Vorfall blitzschnell umdeutet und scharfsinnig schlussfolgert: »Ah, der hat uns ja gar nicht nachgeäfft ! Der
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