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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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auszuschlagen begann.
    9
    Die russischen Weltumsegelungen vor zweihundert Jahren waren Ivar neu. Er brachte ein Tablett mit Täßchen, das Service, Meißener Porzellan, war auch ein großmütterliches Erbstück. Der Tee schmeckte nachRauch, und wir leerten das erste Glas Aquavit auf unser Wohl. Ivar hatte die Baseballmütze nicht abgenommen. Sein Gesicht erinnerte an Gregory Peck als Kapitän Ahab in einem alten Moby-Dick-Film.
    Da du dich für die alte Zeit von Raasiku interessierst, will ich dir etwas zeigen.
    Er verschwand im bereits real existierenden Haus, und als er wiederkam, hatte er ein Konvolut unter dem Arm, den graumelierten Pappband mit dem Etikett 1826. Unter der Titelseite von
Cobbell’s Political Register
kam ein Stoß handgeschriebener Blätter zum Vorschein, der in den Band eingelassen war wie Schmuggelgut. Ich hatte von Löwensterns Handschrift erst faksimilierte Proben gesehen, aber sie war nicht zu verkennen. Auf den ersten Blick waren es Briefe, aber für eine spontane Niederschrift wirkten sie zu akkurat. Die Blätter waren beidseitig eng beschrieben, als hätte der Verfasser mit Papier haushalten müssen.
    Nachdem ich ein paar Seiten überflogen hatte und bekannten Referenzen – etwa dem Namen Golownin – begegnet war, zweifelte ich nicht mehr: ich hatte ein unbekanntes Manuskript Löwensterns in der Hand. Es mußte unschätzbare Aufschlüsse für mein Projekt enthalten und präzisierte, widerlegte oder erübrigte vielleicht so manche Vorstellung, die ich mir schon gemacht hatte. Aufgeregt, wie ich war, hörte ich nur mit halbem Ohr, was mir Ivar über seinen Gang zum Antiquar berichtete.
    Ich würde gern eine Kopie machen, sagte ich, leihst du mir die Handschrift bis morgen?
    Er schenkte nochmals die Gläser voll. Die Landschaft war schon etwas unscharf geworden.
    Like some music?
fragte er.
    Schon war er weg und machte sich an der Tonanlage zu schaffen. Als er wiederkam, war es durchdringend still.
    Einen Braun TK 4, sagte ich, habe ich mir von meinem ersten Lohn gekauft.
    Jetzt begann die Musik zu schallen; Ivar hatte die Lautsprecher aufgedreht, daß sie gewiß bis zum Bahnhof Raasiku zu hören war. Schostakowitsch, das zweite Klavierkonzert, der zweite Satz.
    Er war in Amerika, schrie er in die Trompetenpassage hinein. Zum Kulturkongreß in New York, 1946, im Waldorf-Astoria. Er war nie Kommunist!
    Ich schüttelte den Kopf.
    Aber ein Musiker war er – so! Seine Arme fuhren auseinander, als umfaßten sie ein Klafter Holz.
    Ich starrte ins Grüne, denn jetzt waren die Bäume grün und zwinkerten mir zu. Die Musik schwieg, und Ivar ging in sein angefangenes Haus zurück. Als er wiederkam, blieb er am Rand des Sitzplatzes stehen, die Arme auf eine Gerüststange gestützt; auf den Ellbogen seines braunen Pullovers saßen schwarze Lederflicken. Unten stand der Fahrer und schwenkte die Arme; dann bildete er mit den Händen eine Schalltüte und rief.
    Du mußt gehen, sagte Ivar. – Dann bückte er sich, hob das Konvolut aus meinem Schoß, zog es einen Augenblick an seine Brust und überreichte es mir zum zweiten Mal.
    Keep it, it’s yours
.
    Oh, wow. Thanks
.
    Er füllte zwei Gläser.
To Levenshtein’s health
.
    To you
, antwortete ich. Wir leerten das Glas in einem Zug.
    You need a bag
, sagte er. –
By the way
, warum hat Löwenstern die Zeitschriften versteckt?
    Ich glaube nicht, daß man sie im alten Rußland lesen durfte.
    Wer war
Cobbett?
fragte er.
    Keine Ahnung.
    Das möchte ich jetzt wissen, sagte er. – Ich besorge mir die Zeitschriften wieder. Mal sehen, wieviel sie jetzt kosten.
    Er war sichtlich nicht gewohnt, daß jemand ihn umarmte. Dazu hatte ich die Tüte mit dem Konvolut abgesetzt. Sie trug das Logo APOTEK.
    10
    Auf dem Rückweg fuhren wir doch noch an einem Gutshof vorbei. Er war zum leeren Gehäuse geworden, ließ aber etwas von der Lebensform erkennen, die ihn erbaut und beseelt hatte. Es war eine dreistöckige gelbe Villa, zurückhaltender Klassizismus mit zwei Flügeln und einem Säulenportikus unter dem dreieckigen Giebel des leicht erhöhten Mittelbaus. Eine Gruppe junger Fußballer zeigte den Weg über eine bröckelnde Mauer, mit der man den Gitterzaun überlisten konnte. Dann hatte man das von verwildertem Taxus gesäumte Rondell als Spielplatz für sich, mußte nur aufpassen, daß der Ball nicht in eins der leeren Fensterlöcherflog. Auf der Rückseite verödete eine Parzelle, die früher wohl ein Rosengarten gewesen war. Hier hatte man gutsherrlich gelebt,

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