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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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größeren Ruine war: des Hügels, den die Vegetation bedeckte. Vorn senkte sich dasGelände gegen ein gemauertes Kellergewölbe ab, zwischen stehengebliebenen Mauerbögen gähnten tiefe Löcher, die als Müllgruben dienten, mit verstauchten Pet-Flaschen, Plastikfetzen, rostenden Kanistern.
    Und in diesem Augenblick traf mich die Gewißheit: hier bist du schon gewesen! Der Schlüssel zu diesem Déjà-vu fiel mir erst später zu, beim Tagebucheintrag, als ich das Wort «Zone» schrieb. Ja doch: ich war in die
Zone
des «Stalkers» geraten, die Szenerie von Tarkowskis Film, den ich vor Jahrzehnten gesehen und nicht vergessen hatte. Was mir die Suchmaschine erst nach der Rückkehr verriet: viele Passagen waren in Estland gedreht worden, wenige Kilometer von Raasiku entfernt. Die
Zone
, eine Unterwelt bei lebendigem Leib; getilgtes Land, das immer noch da ist, weil sein Verschwinden zu auffallend gewesen wäre.
    Ist der böse Blick einmal geweckt, greift er auch andere Bilder an und zeigt selbst Tallinn, die schöne hanseatische Altstadt des alten Reval, als Souvenir ihrer selbst. Ich nahm an einer Stadtführung teil, die kaum vom Fleck kam, denn für jedes Haus gab es eine dreifache Geschichte nachzutragen, die unter dem pastellfarbenen Anstrich begraben lag. Estland begegnete mir wie ein Isotop; seit es in der schönen neuen EU-Welt angekommen ist, putzt es seine Denkmäler heraus, um sie so unvergangen wie möglich aussehen zu lassen, doch Unvergangenheit ist sowenig Gegenwart wie ein Untoter ein Lebendiger. In meinem Wagen mit verdunkelten Scheiben war ich hinter jene Bühne geraten, auf der wir die Zukunft Europas verhandelten: aus der Szene in die
Zone
.
    Ich pflückte einen weißblühenden Zweig vom Baum, der neben Löwensterns Kellerresten wuchs; meine Begleiter kannten ihn als
tomingas
. Aber was mir die Suchmaschine an Übersetzung und Illustration bieten konnte («Vogelkirsche»), hatte mit meinem Zweig nichts zu tun. Er war schon unterwegs bis zu Unkenntlichkeit abgewelkt. Die Blende war wieder zu.
    8
    Einige Schritte von der Ruine entfernt zeigte sich ein baumgesäumter Teich, vielleicht der Rest einer Parkanlage; er hätte mit Schwänen besetzt sein können. Dahinter stand auf grüner Wiese ein schmuckes dreistöckiges Holzhaus mit geknickter Dachfläche, gewiß nicht zweihundert Jahre alt. Ein Mann kam auf uns zu, mit Baseballmütze, blauer Farmerhoseund groben Stiefeln. Er begrüßte meine Begleiter als Bekannte und reichte mir eine große zerarbeitete Hand: Ivar. Auch er sprach ein wenig Englisch; ich brauchte keinen Übersetzer, um mein Interesse an einem gewissen Löwenstern zu erläutern. Zwar kannte Ivar die adligen Vorbesitzer des Anwesens nicht, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, bot aber an, seine Ökonomiegebäude vorzuführen; einige seien noch aus wirklich alter Zeit.
    Wir schritten einen weitläufigen Gebäudekomplex ab, der aus Ställen, Speichern, Scheunen und niedrigen Wohnhäusern bestand und im Karree einen leeren Hof umschloß. Die weißgetünchte, weithin fensterlose Außenmauer erinnerte an eine Festung oder japanische Tempelanlage. Aus der Nähe betrachtet, war alles verfallen, und Ivar führte die Stellen vor, wo er mit Reparatur begonnen hatte und das Flickwerk in übersichtliche Architektur überging. Die Renovation, die Ivar offensichtlich allein verrichtete, verlangte einen Herkules oder Sisyphus. Noch waren die Ställe leer, aber in der Scheune hatte sich ein Fuhrpark angesammelt, der ebenfalls überholungsbedürftig war. Viele Traktoren stammten noch aus der Zeit kollektiver Landwirtschaft.
    Ivar bat zum Tee, doch meine Begleiter, wohl ahnend, daß ich mit Ivar ein persönliches Geschäft hatte, empfahlen sich für eine Stunde. Er führte mich ins Haus; es zeigte sich, daß es hinter seiner Fassade alles andere als fertig war. Wir kletterten über eine frisch gezimmerte Stiege in den bewohnbaren Teil des Oberstocks. Hier gab es eine gute Stube ganz in Holz, mit antiquarischen Möbeln, einem Büchergestell und einem «Schneewittchensarg», der alten Braun-Phono- und Radiotruhe mit Plexiglashaube, an der zwei neue Lautsprecherboxen hingen. Eine vierte Wand hatte der Raum einstweilen nicht; die Dielen führten an die freie Luft und verlängerten sich zu einer Art Veranda mit Korbstühlen, wo man wie auf einem Schiffsdeck saß, mit Blick durch Baugerüste in offenes Land. Die Sonne zündete schon tief durch die benachbarte Birken- und Ulmenreihe, deren Blattwerk gerade

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