Loewenstern
der russischen Geschichte: nach dem Tod Alexanders I., im Dezember 1825 wurde, auf dem Schloßplatz von Petersburg, der Aufstand der «Dekabristen» niedergeschlagen. Der Nachfolger auf dem Thron, Nikolaus I., ließ die Blüte des dissidentenAdels von seiner Garde zusammenkartätschen. Die Dekabristen sind seither ein großes Thema der russischen Geschichte. Tolstois «Krieg und Frieden» war als Vorspiel dazu gedacht. Der Nachspiele war kein Ende bis heute – von der Ermordung des reformwilligen Zaren Alexander II. über die Oktoberrevolution bis zur Implosion der Sowjetunion.
Aber was ist im Zeitraum, den das Manuskript – freilich mit Rissen und Sprüngen – abzudecken vorgibt, von Löwensterns Biographie überhaupt bekannt?
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Nach seiner Weltumsegelung wurde er keineswegs, wie sein Kapitän Krusenstern, gefeiert und befördert, sondern kränkelnd und mittellos, ins gottverlassene Archangelsk kommandiert, den ältesten und kältesten Seehafen Rußlands. Er war «Scheff» einer schwimmenden Kanone, die eine Hafensperre gegen die Engländer decken sollte, aber statt der Engländer kamen nur Mückenschwärme, und wenn das Eis die Befestigung übernahm und das Floß wieder eingezogen werden konnte, gab es nichts mehr zu tun, als sich mit häßlichen Vorgesetzten herumzustreiten und unwillige Untergebene exerzieren zu lassen, um nicht in der elenden Unterkunft einzufrieren. Löwenstern, der auch noch seine Krätze nie loswurde, mußte schließlich froh sein, nach fünf Jahren kaltem Elend weitere fünf Jahre in das schwüle Elend des neuen russischen Südens um die Donaumündung versetzt zu werden. Auch darüber hat er, wenn auch nur noch sporadisch, ein Journal geführt, das man nur als fortgesetzte Klage lesen kann. Es läßt Lust und Laune gänzlich vermissen, die seinem Kommentar zu den Hahnenkämpfen an Bord der
Nadeschda
Würze und Witz gegeben haben. Ist Löwenstern in Ungnade gefallen, und warum? Das Journal registriert 1815 nur noch seinen dringenden Wunsch, den Dienst zu quittieren und sich in Rasik als «Landmann» niederzulassen. Als er ihm – kraft Eheschließung mit der vermögenden Wilhelmine von Essen – erfüllt wurde, führt er bis zu seinem Tod 1836, mit noch nicht sechzig Jahren, kein Tagebuch mehr. Oder muß man die neu gefundenen Aufzeichnungen als solches lesen – oder vielmehr:
statt
eines solchen?
Daß die Ehe mit Wilhelmine darin keine Rolle spielt, sowenig wie Rasik, der Ort seiner Kindheit, der wieder zum Lebensmittelpunkt seinerbeiden letzten Lebensjahrzehnte wurde, ist immerhin auffällig. Der Briefteil, das Mittelstück der Aufzeichnungen, reicht bis in seine Pariser Zeit um 1803 zurück. Die Erzählung, die ihm vorausgeht, setzt sogar noch etwas früher an. Da es sich beim gleichfalls erzählenden Schlußteil «Palfer», der 1820 datiert ist, um eine Szene handelt, die jede autobiographische Behandlung ausschließt, liegt der Verdacht nahe, daß es sich auch bei den anderen Stücken, eingeschlossen den in Ich-Form verfaßten Briefen, um eine Fiktion handelt. Aber es könnte auch die Form sein, in welcher er dokumentarisches Material aus früheren kritischen Lebensperioden verwendet. Sogar die «Gryllenburg», die sich geographisch nicht verorten läßt, könnte das Gefäß für Begebenheiten sein, die sich nicht nur im Innern des Autors abgespielt haben; man sollte das Gemäuer darum nicht vorschnell als Metapher betrachten.
Allerdings: seit sich Hermann Ludwig Löwenstern 1815 in Rasik niedergelassen hat, weiß keine meiner Quellen eine größere Bewegung zu melden; keine Auszeichnung, kein Avancement, kein erheblicher Ortswechsel – auch von Nachwuchs wurde mir nichts bekannt. Die Partnerin Nadeschda, gleichnamig mit dem Schiff seiner realen Japanreise, scheint gänzlich eine Erfindung des Autors zu sein, die er am Ende in Versen Chamissos aufgehen läßt, des Dichters aus der Fremde. Die Musik, die sich das Stiftsfräulein von Essen (eine Verwandte von Löwensterns realer Ehefrau) 1820 dazu gewünscht hat, wurde erst 21 Jahre später von Schumann komponiert, in seinem op. 42 «Frauenliebe und -leben».
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Jedes der Blätter ist ganz unten, am Rand der Seite, mit zwei Buchstaben gezeichnet, aus denen ich lange lange nicht klug geworden bin:
d. G.
Initialen sind es nicht, mit denen etwa in einem Testament die Unterschrift des Verfassers bezeichnet und die Zusammengehörigkeit der Papiere beglaubigt würde. Hieße es
Deo gratia
, so wäre die umgekehrte Großschreibung
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